Episodes
Monday Nov 07, 2022
064 — Getting Nothing Done — Teil 1
Monday Nov 07, 2022
Monday Nov 07, 2022
Titel der heutigen Episode ist »Getting Nothing Done« — warum die höchst-technisierte Gesellschaft der Menschheit (jedenfalls in den Industrienationen) bei wesentlichen Infrastrukturprojekten kaum mehr etwas auf die Reihe bekommt. In dieser Episode möchte ich eine Diskussion über ein sehr wichtiges Thema anstossen, über das ich in der letzten Zeit intensiv nachdenke.
Teilen Sie meine Ansichten, oder nicht? Hat diese Episode Sie zum Nachdenken angeregt? Schreiben Sie mir!
Es gibt auch eine englischsprachigen Artikel (mit Illustrationen) von mir zu diesem Thema in den Referenzen.
Beschäftigt man sich ein wenig mit der Vergangenheit, ist es geradezu atemberaubend, welche — zur damaligen Zeit noch neue — Infrastrukturen wir in kurzer Zeit umsetzen konnten — vom Panamakanal über die Wiener Hochquellwasserleitung bis zum Messmer Plan in Frankreich.
In den letzten Jahren erleben wir allerdings, so mein Argument, geradezu eine bleierne Stagnation, und dies nicht bei »innovativen« Projekten, sondern bei Projekten, die wir hunderte oder tausende Male in der Vergangenheit gebaut haben: Konzerthallen, Brücken, Eisenbahnstrecken, Flughäfen, Kernkraftwerke, Tunnel.
»I contrast the now common belief in an ever-faster pace of innovation with the many unmistakable signs of technical stagnation and slowing advances: there are limits to everything, and invention and innovation cannot be exceptions.«, Vaclav Smil
Dieses Problem beschränkt sich nicht auf die »physische« Welt, sondern findet sich in ähnlicher Weise in der virtuellen Welt der Software. Dazu kommt, dass Software/IKT und physische Infrastruktur in immer stärkerer Weise miteinander verbunden sind, was die Problemlage verschärft.
»Die niedrig hängenden Früchte sind größtenteils gepflückt worden, zumindest im Moment. [...] Die Große Stagnation hält an und verschlimmert sich sogar noch, angetrieben von einer zunehmend dysfunktionalen Politik.«, Tyler Cowan
Im ersten Teil versuche ich die Problemlage und Kontext darzustellen und im zweiten Teil Ursachen zu untersuchen, die in fünf Gruppen fallen:
- Enttäuschung über die Digitalisierung und allgemeine Stagnation in Forschung und Technologie
- Regulierung, Bürokratie und Fokusverlust
- Furchtgetriebenes Management und Verrechtlichung der Gesellschaft
- Fokus
- Spezifischer Verlust der Fähigkeit, große Projekte zu realisieren
Zuletzt gebe ich mögliche Pfade an, wie die Situation (in Europa) verbessert werden könnte. Der wesentlichste Aspekt scheint mir aber zu sein, diese Problematik breiter zu diskutieren und zur Kenntnis zu nehmen, und sich nicht in Hype- und Innovations-Marketing-Gerede zu verlieren.
»Der Forschungsaufwand steigt erheblich, während die Forschungsproduktivität stark abnimmt. [...] es dauert etwa 13 Jahre, bis die Forschungsproduktivität um die Hälfte sinkt. Oder anders ausgedrückt: Die Wirtschaft muss ihre Forschungsanstrengungen alle 13 Jahre verdoppeln, nur um die gleiche Gesamtwachstumsrate aufrechtzuerhalten.«, Nicholas Bloom
Der Fokus reicht dabei von erheblichen Qualitätsproblemen in der Wissenschaft bis zu Regulierung und Management-Prinzipien.
Weiter geht es mit Teil 2 hier.
Referenzen
Andere Episoden
- Englischer Artikel im (an)sichten Blog
- Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
- Episode 23: Frozen Accidents
- Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 31: Software in der modernen Gesellschaft – Gespräch mit Tom Konrad
- Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann
- Episode 40: Software Nachhaltigkeit, ein Gespräch mit Philipp Reisinger
- Episode 47: Große Worte
- Episode 59 und 60: Wissenschaft und Umwelt
Fachliche Referenzen
- Lee Vinsel, The Innovation Delusion, Currency (2020)
- Years of Delays, Billions in Overruns: The Dismal History of Big Infrastructure, New York Times (2021)
- »Software Crisis«: Software Engineering, Report on a conference sponsored by the NATO Science Committee, Garmisch, Germany, 7th to 11th October 1968
- »Facebook [ist] als datenverarbeitender Apparat so komplex, dass er sich dem Verständnis von innen heraus entzieht« (2022)
- Massive Datenpanne bei Uber: »Sie haben so vollen Zugriff auf Uber« (2022)
- »Ransomware legt US-Pipeline lahm« (2021)
- Syniverse verarbeitet jährlich Milliarden von Textnachrichten, und Hacker hatten jahrelang unbefugten Zugriff auf das System." (2021)
- »Ein Computerhacker hat sich Zugang zum Wassersystem einer Stadt in Florida verschafft und versucht, eine "gefährliche" Menge einer Chemikalie hineinzupumpen, sagen Beamte. [...] Aber ein Arbeiter entdeckte es zufällig und machte die Aktion rückgängig.« (2021)
- Lidl Cancels SAP-introduction after having sunk 500 Million into it
- Robert Gordon, Is US economic growth over? Faltering innovation confronts the six headwinds, Working Paper 18315 (2012)
- Tyler Cowan, The Great Stagnation, Dutton (2011)
- Eric Weinstein and Peter Thiel, The Portal #001 (2019)
- David Graeber im Gespräch mit Peter Thiel "Where did the Future go?" (2020)
- Brian Potter, When did New York start building slowly? (2023)
- Nassim Taleb, Skin in the Game, Penguin (2018)
- Nassim Taleb, What do I mean by Skin in the Game? My Own Version, Medium (2018)
- Gerd Gigerenzer, Risiko, Bertelsmann (2013)
- Marc Andreessen im Gespräch mit Sam Harris, Making Sense #290 (2022)
- David Graeber, The Utopia of Rules, Melville House (2016)
- David Graeber, Bullshit Jobs, Penguin (2019)
- Lukas Feiler erklärt in einer Podiumsdiskussion im Gespräch mit mir
- Vaclav Smil, Invention and Innovation: A Brief History of Hype and Failure, MIT Press (2023)
Sunday Oct 16, 2022
063 – Museum der Zukünfte — ein Gespräch mit Dr. Gabriele Zipf
Sunday Oct 16, 2022
Sunday Oct 16, 2022
In Berlin gibt es ein Museum, ein Haus der Zukunft, das Futurium. Ich halte es für eine hervorragende Idee einen Raum zu schaffen, in dem über die Zukunft (beziehungsweise Zukünfte) diskutiert wird, vor allem auch darum, weil sich dieses Museum auch stark an Kinder, beziehungsweise junge Menschen wendet.
Es hat mich folglich sehr gefreut, dass die Leiterin der Ausstellung, Frau Fr. Dr. Zipf sich zu einem Gespräch bereiterklärt und mich ins Futurium eingeladen hat.
Im Gespräch stelle ich die Frage, warum Zukunft im Plural, also Zukünfte verwendet wird: Ziel ist das Aufzeigen von Möglichkeiten. Aber wie weit ist Zukunft gestaltbar, von wem, welche Rolle spielt das Individuum? Wie kann der Versuch, Zukunft vorstellbar machen funktionieren?
Dr. Zipf ist Archäologin und da stellt sich naturgemäß die Frage: wie passt die Archäologie zur Beschäftigung mit der »Zukunft«? Gibt es eine Herangehensweise an »Zeit«? Kann man möglicherweise Prinzipien aus der Geschichte ableiten?
»Die Geschichte wiederholt sich nicht«
Und dennoch ist, wie sich im Gespräch zeigt, die Beschäftigung mit der Vergangenheit von Wert, wenn man in die Zukunft blicken möchte. So diskutieren wir die Notwendigkeit eines inter- und intradisziplinären, also eines multiperspektivischen Blicks. Was ist die Rolle von Generalisten versus Spezialistentum, der Philosophie?
Das Futurium selbst besteht aus vier verschiedene Ebenen:
- Ausstellung
- Lab
- Veranstaltungen
- Digitales Futurium
Kann ein Haus, beziehungsweise ein Projekt wie das Futurium eine vermittelnde, eine Generalisten-Rolle einnehmen? Wie versucht das Futurium die »futures literacy« zu verbessern — also pädagogische Ansätze zu entwickeln um auch junge Menschen eine kritische aber konstruktive Perspektive der Zukunft anschaulich zu machen?
Was ist von Zukunftsforschung zu halten (jenseits von Individuen die sich breit inszenieren, deren Vorhersagen aber selten zutreffen?)? Was sagen die Bilder, die wir uns von der Zukunft machen über uns aus?
Dann diskutieren wir die sehr prinzipelle Frage, was ist eigentlich eine gute Zukunft? Das führt uns das zur Frage des Fortschrittes:
»Wir verwechseln systematisch Fortschritt mit Innovation.«, Harald Welzer
Apropos Innovation: Erleben wir wirklich eine solche Beschleunigung, wie das gängige Narrativ suggeriert, oder eher eine Stagnation? Was wir heute als Zukunft diskutieren, haben wir schon vor 30 Jahren diskutiert — vielleicht sogar noch früher.
»Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.«, Johann Nestroy
Helfen Dystopien, die Menschen zu bewegen, oder ist das zwar ein narrativ einfacher, aber letzlich wenig hilfeicher Pfad? Wie kommen wir von den Dystopien und einfachen Klischees/Stereotypen hin zu einer konstruktiven und sinnvollen Diskussion der Zukunft?
Wie können wir mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft umgehen: wieweit hilft Innovation? Wie kommen wir zu einer gemeinsamen Sicht auf Fortschritt? Wollen wir radikalen Wandel (siehe etwa die Vorstellungen Le Corbusiers, wie Paris umzugestalten wäre), Transformation, evolutionäre Veränderung?
Gibt es Kipp-Punkte in der Technik und Gesellschaft, die dazu führen können, dass eine an sich bekannte Technik (endlich) den Durchbruch schafft (siehe auch das Beispiel der Elektro LKWs in London 1917)?
Die Geschichte lehrt und jedenfalls eines: dass das, was aktuelle Generationen für richtig halten, nicht immer den Test der Zeit besteht. Was können und sollen wir tun um einerseit in unserer Zeit zu handeln, andererseits aber Handlungsspielraum für zukünftige Generationen zu erhalten?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 15: Innovation oder Fortschritt?
- Episode 17: Kooperation
- Episode 23: Frozen Accidents
- Episode 28: Jochen Hörisch — Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
- Episode 45: Mit Reboot oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 50: Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr
- Episode 59, 60: Wissenschaft und Umwelt
Futurium
Fachliche Referenzen
- Toronto wants to kill the smart city forever, MIT Technology Review (2022)
- Frank Schirrmacher, Neil Armstrongs Epoche: Das Drama einer Enttäuschung, FAZ Feuilleton (2012)
- Lorries being refuelled at St Pancras goods depot, London, 11 July 1917
- Frozen Accidents: Stewart Brand, How Buildings Learn, Penguin Books (1995)
- Why Architect Le Corbusier Wanted To Demolish Downtown Paris, Business Insider (2013)
- David Graeber, Bürokratie, Die Utopie der Regeln, Goldmann (2017)
- Attila Hörbiger, Johann Nestroy, Lumpazivagabundus
Tuesday Sep 20, 2022
062 — Wirtschaft und Umwelt, ein Gespräch mit Prof. Hans-Werner Sinn
Tuesday Sep 20, 2022
Tuesday Sep 20, 2022
Ich habe mich in früheren Episoden öfter mit Umweltfragen beschäftigt, im besonderen auch in Episode 59 und 60. Bisher ist aber die Rolle der Wirtschaft beziehungsweise der Wirtschaftswissenschaften zu kurz gekommen. Daher freut es mich ganz besonders, mit einem der führenden deutschen Ökonomen ein Gespräch führen zu können:
Prof. Hans-Werner Sinn ist Jahrgang 1948, studierte Volkswirtschaftslehre in Münster. Von 1984 bis 2016 war er Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Hinzu kamen Gastprofessuren und Forschungsarbeiten an der University of Western Ontario in Kanada, der London School of Economics sowie an den Universitäten Bergen, Stanford, Princeton und Jerusalem. Von 1999 bis 2016 war Hans-Werner Sinn Präsident des ifo Instituts, stand als Direktor dem Center for Economic Studies (CES) der LMU vor und war Geschäftsführer der CESifo GmbH, eine gemeinsame Initiative der LMU und des ifo Instituts.
Prof. Sinn kritisiert bereits seit vielen Jahren aus, wie ich meine, gutem Grund die deutsche Energiewende. In meinem Archiv habe ich einen Artikel aus dem Manager-Magazin aus dem Jahr 2014 gefunden, der bereits wesentlichen Probleme, die wir heute auch aufgreifen werden, beschreibt und der sich auch über die Jahre als zutreffend herausgestellt hat. Deutschland wäre meiner Einschätzung nach großer Schaden erspart geblieben, wenn man diese Kritik ernst genommen hätte.
Vor wenigen Monaten bin ich dann wieder auf einen Vortrag von Prof. Sinn gestossen, und zwar zum Klimasymposion — Konstanz Mai 2022 — mit dem Titel »Die Globale Energiewende: Sechs große Probleme«.
Dieser Vortrag hat mich sehr beeindruckt und ich werde auf wesentliche Themen, die Prof. Sinn in diesem Vortrag beschreibt im folgenden Gespräch bezugnehmen. Ich empfehle daher diesen Vortrag vorweg zu hören. Die sechs Probleme die in diesem Vortrag genannt werden sind:
- In Paris akzeptiert nur eine Minderheit von 61 der 191 Unterzeichner eine verbindliche quantitative Emissionsbeschränkung
- EU hat sich utopische Ziele gestellt. Deutschland will sogar gleichzeitig aus Kernkraft und Kohle aussteigen und hat sich dadurch von anderen Ländern abhängig gemacht
- Wind- und Sonnenstrom sind viel zu volatil um eine preisgünstige Vollversorgung zu gewährleisten
- Europa drangsaliert Autoindustrie und verstößt gegen Gesetzt des »einen Preis«. Der Markt als Entdeckungsverfahren für CO2-arme Technologie wird ausgeschaltet
- Beim deutschen Energiemix sind die E-Autos nicht CO2-günstiger als Dieselautos
- Bei handelbaren Brennstoffen ist der Effekt des europäischen Verzichts nicht nur klein sondern null
Wir sprechen in dieser Episode daher im besonderen über die deutsche Energiewende, aber auch generell über die Rolle der Ökonomie, beziehungsweise Wirtschaftswissenschaften, wenn es um die Bewältigung der ökologischen Probleme der Zeit und der Zukunft geht.
Eine für mich dabei wichtige Metafrage ist folgende: Keiner der sechs Probleme, die Prof. Sinn in seinem Vortrag darlegt scheinen besonders schwierig zu verstehen zu sein; im besonderen nicht die ersten drei, die schon ausreichen, um etwa die deutsche »Energiewende« in Frage zu stellen. Wie kann es sein, dass eine moderne und gebildete Gesellschaft, deren politische Vertreter und Medien diese fundamentalen Kritikpunkte kaum oder nur auf sehr niedrigem Niveau diskutiert?
»Utopien sind für Träume schön, aber für eine reale Politik macht das keinen Sinn«
Wie kommen wir von Wunschvorstellungen zu realem Fortschritt, der unsere Gesellschaft nicht im Kern gefährdet? Welche Rolle spielen »Externalitäten« in der Wirtschaft?
»Bei der Erderwärmung haben wir einen erheblichen Misstand, und dieser muss bekämpft werden«
Technik und Moral alleine werden dafür nicht ausreichen. Wie können die Menschen (global) dazu bewegt werden das Richtige zu tun? Die aktuellen Maßnahmen sind nicht nur wenig dazu geeignet das Problem anzugehen, sie sind in weiten Bereichen kontraproduktiv.
»Die Windräder sind keine zweckdinglichen Bauten für den Naturschutz, sondern es sind Sakralbauten. […] jeder Windflügel der errichtet wird ist sichtbar für jeden ein Nachweis dafür, wie dominant diese neue Religion ist.«
Was sind dann aber sinnvolle Maßnahmen? Kann Emissionshandel hier ein wesentlicher Puzzlestein sein? Wie geht man damit um, dass jeder Ansatz letztlich eine globale Perspektive hat? Wie soll die politische Seite einer tatsächlich funktionierenden Energiewende organisiert werden? Staatlich getrieben (mit welchen Maßnahmen?), libertär oder auf freiem Markt aufgebaut?
Was ist die Rolle der Wissenschaft? Beobachten wir bei wesentlichen Zukunftsthemen gerade eine zunehmende Verschränkung schlechter Forschung gepaart mit Aktivismus? Beschädigen Publikationszwang und Finanzierung aus der Wirtschaft den Wissenschaftsbetrieb?
Was ist die Rolle de Ökonomie? Erleben wir nicht seit Jahrzehnten eine Selbstüberschätzung der Wirtschaftswissenschaft, oder jedenfalls lautstarker Ökonomen in der Öffentlichkeit — denken wir an Prognostik und an die Idee steten Wirtschaftswachstums?
Prof. Sinn beschreibt die neoklassische Theorie als Suche nach Externalitäten und Markt-Fehlern. Welche sind dies?
Welche Rolle spielte die Studie des Club of Rome 1972 und das Symposium on the Economics of Exhaustible Resources 1974. Was bedeutet Wachstum für ökonomische Theorien und Modelle? Gibt es die oft zitierte Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Verbrauch an Ressourcen?
Welche Rolle spielt die Populationsgröße, ein politisch und ethisch sehr schwieriges Thema?
Zum Abschluss frage ich Prof. Sinn, was er einem jungen Menschen raten würde, der einen positiven Beitrag für die (Um)welt leisten möchte.
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 59 und 60: Wissenschaft und Umwelt
- Episode 46 über Aktivismus mit Zion Lights
- Episode 45: Mit Reboot oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, mit Herbert Saurugg
- Episode 36: Energiewende und Kernkraft, ein Gespräch mit Anna Veronika Wendland
Hans-Werner Sinn
- Homepage von Prof. Hans-Werner Sinn
- Prof. Hans-Werner Sinn am ifo
- Hans-Werner Sinn, Klimasymposion — Konstanz Mai 2022 — mit dem Titel »Die Globale Energiewende: Sechs große Probleme«
- ifo-Chef Sinn zur Energiewende: »Die einzige Hoffnung der Menschheit war die Atomkraft«, Manager Magazin (2014)
- Buch: Hans-Werner Sinn, Das grüne Paradoxon, Weltbuch Verlag (2020)
- Suzanne Thoma, Daniel Jositsch und Hans-Werner Sinn diskutieren mit Martin Meyer über die Zukunft der Energie. Neue Zürcher Zeitung (9.2.2022)
- Hans-Werner Sinn, Die Dinos
- Hans-Werner Sinn, Ist das E-Auto ein Rückschritt? Wirtschaftswoche (2019)
weitere fachliche Referenzen
- Pigou, Arthur Cecil. 1920. The Economics of Welfare. 4th ed. London: Macmillan
- Donella Meadows, Jorgen Randers, Dennis Meadows, Grenzen des Wachstums - Das 30-Jahre-Update: Signal zum Kurswechsel, Hirzel (2020)
- Symposium on the Economics of Exhaustible Resources (1974)
- Tim Morgan, Life after Growth, Harriman House (2016)
Sunday Aug 28, 2022
061 — Digitaler Humanismus, ein Gespräch mit Erich Prem
Sunday Aug 28, 2022
Sunday Aug 28, 2022
Meinen heutigen Gast habe ich ebenfalls schon länger auf meiner Wunschliste und es hat mich gefreut, dass er auch sofort zugesagt hat! Erich Prem ist nicht nur Vertreter des "digitalen Humanismus" (DH) — das Thema der heutigen Episode — sondern ein breit gebildeter, interdisziplinärer Denker, wie in dieser Episode deutlich werden wird.
Er ist in seiner Erstausbildung Computerwissenschafter, der sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Er hat am ÖFAI in Wien am sogenannten Symbol Grounding Problem gearbeitet und am MIT in den USA an verhaltensbasierter Robotik. Er leitet seit über zwei Jahrzehnte ein strategisches Technologieberatungsunternehmen, Eutema, in Wien, das neben der EU Kommission auch Ministerien und Universitäten berät.
Er beschäftigt sich als Philosoph — seiner Zweitausbildung — mit komplizierten Fragen an der Schnittstelle von Ethik, Digitalisierung und Technologiepolitik.
Neben vielen anderen Publikationen ist er Mitherausgeber des jüngst erschienen Buches »Perspectives of digital humanism«. Er unterrichtet Digitalen Humanismus an der TU-Wien und Datenethik an der Universität Wien.
In dieser Episode beginnen wir mit der Frage, wie unsere tägliche interaktion mit digitalen Geräten tatsächlich aussieht und wie wir uns das eigentlich wünschen würden. Wie verändert sich die Arbeitswelt? Wie gehen junge Menschen mit digitalen sozialen Räumen um?
Welche Rolle spielen digitale Technologien im geopolitischen und ökonomischen Sinne auch für Europa? Denken wir an Überwachung, langfristige Absicherung wesentlicher Technolgien.
Dann setzen wir uns mit dem relativ neuen Begriff des »digitalen Humanismus« etwas konkrete auseinander: Was ist Humanismus? Was ist die Rolle des Menschen, vom Menschenbild des alten Griechenlands über klassische Bildungsideale zur heutigen Zeit. Spielt Humanismus heute überhaupt noch eine Rolle und sollte er eine Rolle spielen?
Was ist nun der DH und warum braucht es diesen neuen Begriff? Die Kritik von Adorno und Horkheimer am Humanismus wird im DH aufgenommen und Freiheit, Menschenrechte — liberale, westliche Werte verankert, bei einigen Vertretern ist auch eine starke Kapitalismuskritik zu finden, sowie Hinweis zum Überwachungskapitalismus.
Allerdings betont Erich, dass das Individuum nicht alleine im Zentrum stehen darf, sondern sich immer in Reflexion mit der Gesellschaft befindet. Denn digitale Technologien sind auch Machtinstrument und bedürfen politischer und gesellschaftspolitischer Debatte um die Frage zu beantworten: wer formt »das Digitale« eigentlich, wem nutzt es?
Dann diskutieren wir die unterschiedliche Wahrnehmung digitaler Technologien zwischen Kulturen und Nationen, etwa am Beispiel des Techniums von Kevin Kelly, europäischer Philosophie und der Globalisierung, sowie der Frage, woher eigentlich das Design von Technik stammt: top down, bottom up oder gar ungesteuert?
Eine Besonderheit des DH, auch als Abgrenzung anderer wissenschaftlicher Strömungen wie etwa der Technikfolgenabschätzung ist, dass DH von Informatikern geprägt ist, mit dem Anspruch, die Folgen der eigenen Technologie besser zu bestimmen. Dies geschieht nicht Technologie-feindlich, sondern in der Erkenntnis, dass wir uns in Frühzeit der Digitalisierung befinden, die in vielen Bereichen schlicht noch nicht gut genug ist, beziehungsweise falsche Wege eingeschlagen hat. Der DH nimmt also an, dass es kein Schicksal ist sondern nach gesellschaftlichen Vorstellungen Technik gestaltbar ist.
Ich stelle dann die Frage, ob wir nicht teilweise auf Medien-Hypes hereinfallen und die Bedrohungen möglicherweise gar nicht so groß sind. Als Stichworte könnte man nennen: Social Score in China, Google Flue Trends oder Covid AI, und unterscheiden sich die rechtlichen Prinzipien in der analogen Welt wirklich so stark von der digialten, wie manchmal behauptet wird?
Auch wenn es hier und da Übertreibungen gibt, so erkennen wir doch zahlreiche Folgen der Digitalisierung, die sich mit dem Bild, den digitale Humanisten haben, nicht zur Deckung bringen lässt. Darf eine Person etwa auf ihre beobachtbaren Effekte reduziert werden — vor allem von der Vergangenheit in die Zukunft mit vielleicht anderen Kontexten? Wie sieht es mit dem Filtern und der Moderation von Inhalten auf Plattformen aus? Oder, was ist schlimmer: gute oder schlechte »künstliche Intelligenz«?
Einen Kritikpunkt des DH spreche ich noch an, nämlich die Frage des Anthtropozentrismus? Fokussiert sich der DH zu stark auf den Menschen? Was ist mit Nachhaltigkeit und anderen systemischen Fragen?
Zuletzt grenzen wir noch den Digitalen Humanismus vom ähnlich klingenden Begriff der Digital Humanities ab und, was wesentlicher ist, stellen die Frage, was unter Digitaler Souveränität zu verstehen ist: ist Souveränität das gleiche wie Autarkie? Was haben wir in Europa in dieser Hinsicht in den letzten Jahren übersehen, wie sollten wir politisch reagieren?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 4 und Episode 5: »Was will Technologie«, wo ich genauer auf die Ideen von Kevin Kelly eingehe, die wir im Gespräch erwähnen
- Episode 28 mit Prof. Jochen Hörisch zur Idee und aktueller Situation der Universität
- Episode 24 mit Peter Purgathofer: Hangover: Was wir vom Internet erwartet und was wir bekommen haben
- Episode 30 mit Tim Prilove über Techno-Optimismus
Erich Prem
fachliche Referenzen
- Manifest zum digitalen Humanismus
- Hannes Werthner, Erich Prem, Edward A. Lee, Carlo Ghezzi, Perspectives on Digital Humanism, Springer (2022)
- Erich Prem, A brave new world of mediated online discourse, Communications of the ACM (Feb. 2022)
- Shoshanna Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, campus (2018)
- Kevin Kelly, What Technology Wants, Penguin (2011)
- Edware Lee, The Coevolution, MIT Press (2020)
- Social Score China: Spectator Podcast, Chinese Whispers: Mythbusting the social credit system (2022)
- Why Google Flu is a Failure, Forbes (2014)
- What we can learn from the epic failure of Google Flu Trends, Wired (2015)
- Hundreds of AI tools have been built to catch covid. None of them helped. | MIT Technology Review (2021)
- Jonathan Haidt, Why the Past 10 Years of American Life Have Been Uniquely Stupid, The Atlantic (2022)
- Coleman Hughes on The Death Of Conversation with Jonathan Haidt (2022)
- Cathy O'Neill, Weapons of Math Destruction, Crown (2016)
- David Edgerton, The Shock of the Old (2019)
Wednesday Jul 27, 2022
060 — Wissenschaft und Umwelt — Teil 2
Wednesday Jul 27, 2022
Wednesday Jul 27, 2022
Shownotes siehe Teil 1.
Thursday Jul 07, 2022
059 — Wissenschaft und Umwelt — Teil 1
Thursday Jul 07, 2022
Thursday Jul 07, 2022
Schon vor ca. 20 Jahren habe ich Vorträge und Seminare zum Thema Wissenschaft und Umwelt gehalten. Vieles von dem, was ich damals gesagt habe, hat sich bis heute (leider) bestätigt. Diese Episode ist so etwas wie ein Frühjahrsputz für mich:
Wie steht die Einordnung der verschiedenen Ideen und Ansätze der Umweltbewegungen mit-, gegen- und zueinander? Wie steht es zwischen Theorie, Ideologie und Praxis? Werten und Aktivität? Welche Rolle spielt Wissenschaft?
Wo sehen wir begriffliche Verwirrungen? Wie finden wir den Weg von, aber auch der Spalt zwischen Ethik und Praxis?
Diese Episode wird die Themen keinesfalls abdecken, ich sehe es eher als ein Aufwerfen von Bällen, die zum Teil in früheren Episoden, zum Teil in späteren Episoden wieder aufgefangen und genauer betrachtet wurden oder werden sollten.
Welche Ansätze und Ideologien gibt es in der Umweltbewegung?
1. De-Growth (Wachstumskritik)
Wachstumskritik hat eine lange und wechselhafte Tradition, die wenigstens auf Thomas Robert Malthus um 1800 zurückgeht und immer wieder neu interpretiert wurde und wird. Eine moderne Definition der Ziele ist:
»Gerechtes Herunterskalieren von Produktion und Konsum, der das menschliche Wohlbefinden und die ökologischen Bedingungen verbessert«
Wir finden in dieser Gruppe leider aber auch eine nicht zu geringe Zahl an Extremisten, denen auch die radikale Reduktion der Menschheit wünschenswert erscheint um das Ziel zu erreichen, etwa:
»Until such time as Homo sapiens should decide to rejoin nature, some of us can only hope for the right virus to come along.«, David Gräber
2. »Business as Usual«
Wenn wir ehrlich sind, interessiert das Thema Umwelt im Alltag immer noch fast niemanden, jedenfalls dann nicht, wenn es über das Ausrollen von Wohlfühltechnologien und -ideen geht, die dem Einzelnen (scheinbar) wenig Kosten verursachen aber ein gutes Gefühl geben, etwas geleistet zu haben:
»Das Ausrollen von ineffektiven Wohlfühl-Technologien ist dreifach schlecht — abgesehen vom offensichtlichen, dass sie ineffektiv sind, führt es auch dazu, dass der Druck nachlässt etwas wirkungsvolles zu tun, weil ja gehandelt wird, und vielleicht das schlimmste: es lenkt mögliche Ressourcen weg von wichtigeren Bedürfnissen.«, Steven Koonin
3. Eco-Modernismus
Dder mittlerweile 101 jährige James Lovelock in seinem letzten Buch Novacen:
»Das Bestreben nach einer besseren Zeit vor dem Anthropozän ist eine Phantasie. Zunächst einmal, weil es nie eine goldene Zeit frei von Wünschen und Leid gab und zweitens, weil wir, um dorthin zurück zu gelangen, die offensichtlichen Vorteile der Moderne rückgängig machen müssten«
Beim Eco-Modernismus steht der Mensch im Zentrum der Veränderung aber auch der Verantwortung; Reduktion des menschlichen Einflusses auf die Natur durch Entkopplung, Intensivierung und Innovation sind der Anspruch:
»Intensivierung vieler menschlicher Tätigkeiten — im besonderen Landwirtschaft, Energiegewinnung, Forstwirtschaft und Siedlung — mit dem Ziel, weniger Land zu nutzen und weniger in die natürlichen Welt einzugreifen ist der Schlüssel, menschliche Entwicklung von den negativen Einflüssen auf die Umwelt zu entkoppeln«
Eco-Modernisten lehnen radikale Wachstumskritik ab. Selbst Jorgen Randers, der Mitautor der »Grenzen des Wachstums« von 1972, schreibt vor wenigen Jahren:
»Der fundamentale Grund, warum die meisten Menschen Wachstum bevorzugen ist, dass es der einzige Weg ist, den moderne Gesellschaften gefunden haben um drei Probleme effektiv zu lösen: Armut, Arbeitslosigkeit und Pensionen«
Aber können wir glauben, dass wir die Herausforderungen der Zeit alleine mit Technik und Wachstum lösen können? Wie lange kann das gut gehen?
4. Singularisten/Eskapisten & Post-Humanisten
Die Insel oder das Landgut in Neuseeland reicht für viele Milliardäre nicht mehr aus, um sich vor den Katastrophen der Welt zu verstecken. Heute muss es der Mars, Raumstationen oder gar das Verlassen des Sonnensystems sein. Jedenfalls ist das die Vision einiger Vertreter einflussreicher US-Eliten.
Sollte das doch nicht klappen, können wir uns ja in Computer hochladen und virtuell weiterleben. Oder übergeben wir als Menschen gar den Stab an intelligente Maschinen? Wer glaubt an diese Phantasien, beziehungsweise hält sie für eine wünschenswerte Zukunft?
***
Im zweiten Teil dieser Episode stelle ich die Frage, was Philosophie und Ethik zu diesem Themenbereich zu sagen hat? Wer steht eigentlich im Zentrum der Betrachtung, Mensch oder Natur? Sollten wir Deep oder Shallow Ecology betreiben? Wem sollen wir folgen, Deontologen oder Utilitaristen und was ist von der »PAT« Formel zu halten?
Haben die Wachstumskritiker bisher mit ihren Vorhersagen recht behalten, und selbst wenn nicht — was bedeutet dies für die Zukunft? Außerdem: nicht nur die Interessen westlicher Industrienationen zählen:
»Diese verschiedenen Ansätze haben ein gemeinsames Design, das ökonomische Ziel, die Kosten des Klima-Aktivismus zu sozialisieren und die Armen die Rechnung für die Reichen zahlen zu lassen.« und
»Die Weiterführung globaler Armut und niedriger Einkommen kann nicht die Klima-Strategie der reichen Welt sein.«, Samir Saran
Welche Rolle spielt Ideologie und wie ist die Lücke zwischen Ideologie, Wissenschaft und tatsächlicher Umsetzung zu überbrücken. Gerade unter Aktivisten erleben wir oft ein hohes Maß an Motivation, Kritik an Missständen aber nur sehr selten kohärente und realistische Ideen, wie die Situation verbessert werden kann.
»Es zeigt sich, dass in den fortgeschrittensten Phasen der Idiotie der Ideenmangel mit Ideologieüberschuss kompensiert wird.«, Carlos Ruiz Zafon, eine Figur in Das Spiel der Engel
Oftmals scheint die Medizin des Aktivismus schlimmere Folgen zu haben als die Krankheit — helfen uns die zahlreichen NGOs also, das Problem zu lösen, oder richten sie oftmals mehr Schaden als Nutzen an?
»Tausende Kuhhörner, vergraben auf einem Acker, sollen für eine gute Ernte sorgen. Für Demeter-Landwirte ein gängiges Ritual. Ein Verband zwischen Biolandwirtschaft und Esoterik.«, ZDF-Bericht zur Bio-Landwirtschaft zwischen Ökologie und Esoterik
Dass es nicht nur um nutzlose Esoterik geht, sondern dass inkohärente Öko-Ideen auch massive Schäden anrichten können, zeigt der radikale Versuch in Sri Lanka auf eine vermeintlich grüne Landwirtschaft umzusteigen:
»Die Befürworter von Bio-Landbau, überzeugt von naturalistischen Fehlschlüssen und argwöhnisch über moderne landwirtschaftliche Forschung, können keine plausible Lösung anbieten. Was sie anbieten, wie das Disaster in Sri Lanka offen gelegt hat, ist Elend.«, Ted Nordhaus
Das Experiment in Sri Lanka wurde nach wenigen Monaten beendet, weil die Folgen verheerend waren.
Ein anderes Beispiel: Greenpeace protestiert zur gleichen Zeit in England gegen ein Solarkraftwerk und in Frankreich gegen Kernkraft. Wer kann das rational nachvollziehen und unterstützen?
Wenig hinterfragte Ideologisierung finden wir aber auf allen Seiten. Wie kommen wir aus diesem Patt heraus? Kann es gelingen, die vernünftigen Ideen aller Seiten zusammenführen und die wenig hilfreichen (aber lauten) Vertreter beider Seiten zu ignorieren? Es gibt gute Beispiele von Aktivisten, die tatsächlich zuhören und ihre Meinung ändern, wenn sie von besseren Argumenten überzeugt werden, wie auch Episode 46 mit der Aktivistin Zion Lights zeigt! Nehmen wir uns diese zum Vorbild.
Zum Abschluss: eine ganze Reihe von Begriffen tauchen in diesem Kontext immer wieder auf, die zumindest hinterfragt werden sollten, eine kleine Auswahl diesmal:
- Wissenschaft und Szientismus
- Probleme vs. Dilemmata
- »Umwelt«
- Naturalistischer Fehlschluss
- Vorsorge Prinzip
Zusammenfassend: wie geht es weiter? Die Zeit, wo wir uns als passive, von Natur oder Gott getriebenen Lebewesen sehen konnte ist vorbei:
»Wir können uns wahrscheinlich kaum mehr so etwas wie Naturphänomene vorstellen, die im Sinne der klassischen Theodizeefrage vollständig auf Natur als Gegenkonzept zu Kultur oder Gesellschaft ausgelagert werden können. Selbst wenn ein Komet auf die Erde zurasen würde, […] würden wir das nicht alleine einem externen Schicksal zurechnen, sondern die Katastrophe unserem Mangel an Abwehrstrategien zurechnen«, Armin Nassehi
Wie kommen wir zu einer systemischen Sicht, zu einem Blick, die »Gaia« als ganzes betrachtet, das menschliche Wohlbefinden nicht hinten anstellt und trotzdem nicht zur Katastrophe führt?
»Catastrophists are wrong, time after time. […] And techno-optimists, who promise endless near-miraculous solutions, must reckon with a similarly poor record.«, Vaclav Smil
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 7 und 8: Alles wird besser... oder nicht?
- Episode 15: Innovation oder Fortschritt
- Episode 16: Innovation oder Forrtschritt oder Stagnation?
- Episode 18: Fortschritt oder Stagnation: Gespräch mit Andreas Windisch
- Episode 39: Follow the Science
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, ein Blick hinter die Kulissen: Gespräch mit Herbert Saurugg
- Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
- Episode 46: Activism, a Conversation with Zion Lights
-
Episode 62: Wirtschaft und Umwelt, ein Gespräch mit Prof. Hans-Werner Sinn
-
Episode 70: Future of Farming, a conversation with Padraic Flood
Fachliche Referenzen
- Extinction Rebellion Website
- Degrowth US Readings
- Jason Hickel, Degrowth: A Call for Radical Abundance
- Hating Humanity Won’t Get You Canceled - WSJ
- Why Silicon Valley billionaires are prepping for the apocalypse in New Zealand, The Guardian (2018)
- Steven Koonin, Unsettled, What Climate Science Tells Us, What It Doesn't, and Why It Matters
- Patrick Curry, Ecological Ethics, An Introduction, Polity Press (2006)
- Stanford Encyclopaedia of Philosophy, Environmental Ethics
- Samir Saran, Enough Sermons on Climate, It’s Time for ‘Just’ Action
- Peter Treue, Blut und Bohnen, Der Paradigmenwechsel im Künast-Ministerium ersetzt Wissenschaft durch Okkultismus, FAZ (2002)
- Cornelius Janzen, Ritual der Demeter-Landwirte: Warum sie Kuhhörner in der Erde vergraben, ZDF (2021)
- Demeter, »biodynamische« Präparate
- Mark Lynas, Finland’s Green Party endorses nuclear power (2022)
- Mark Lynas, Seeds of Science, Why We Got It So Wrong On GMOs (2020)
- James Lovelock, Novacene, The coming age of hyper intelligence
- Jorgen Randers, 2052 A global forecast for the next forty years (2012)
- Ted Nordhaus, Sri Lanka's Organic Farming Experiment Went Catastrophically Wrong, Foreign Policy (2022)
- Der Mensch - das Mängelwesen, NZZ (2004)
- The Doomslayer. The environment is going to hell, and human life is doomed to only get worse, right? Wrong. Conventional wisdom, meet Julian Simon, the Doomslayer. Wired (1997)
- Population, Affluence, and Technology, Penn State College of Earth and Mineral Sciences
- Roger Pielke Jr., More on the Iron Law of Climate Policy (2010)
- Carlos Ruiz Zafón, eine Figur in Das Spiel des Engels
- Vaclav Smil, How the World Really Works, Penguin (2022)
Thursday Jun 16, 2022
058 — Verwaltung und staatliche Strukturen — ein Gespräch mit Veronika Lévesque
Thursday Jun 16, 2022
Thursday Jun 16, 2022
Ich hatte seit längerer Zeit in Thema im Hinterkopf, das für die Zukunft unserer modernen Gesellschaften von großer Bedeutung ist, und dennoch häufig unter dem Radar läuft, beziehungsweise in den letzten Jahren seit dem immer stärkeren durch systemisches Versagen in vielen Ländern unter Beschuss geraten ist. So weit, dass manche von einer fundamentalen Ablöse träumen — sei es in Blockchain-Träumen oder mondäneren Varianten davon:
Dieses Thema ist, »Verwaltung und staatlichen Strukturen«, denn beide bilden meiner Ansicht nach das Rückgrat jeder modernen Gesellschaft und es freut mich daher besonders mit Veronika Lévesque, eine äußerst kompetente Ansprechpartnerin zu diesem Themenfeld gefunden zu haben.
Veronika Lévesque ist Organisationsbegleiterin und Projektmensch am Institut für Arbeitsforschung und Organistionberatung IAFOB. Beschäftigt sich vorzugsweise mit Fragen, für die es noch keine fertige Antwort gibt. Das macht sie natürlich zu einer perfekten Ansprechpartnerin für diesen Podcast.
Ebenso, dass Frau Lévesque begeisterte Grenzgängerin ist: sie ist in vier Ländern, drei Sprachen und am liebsten in den Zwischenräumen zwischen Disziplinen unterwegs, mit den Schwerpunkten: Transformation, Organisations- und Entwicklungshandwerk, agile Spielfelder in nicht-agilen Umgebungen und Methodenentwicklung. Der Umgang mit Nicht-Planbarem ist dabei immer ein wesentliches Motiv.
»Ein ambitionierter Fehler ist oft hilfreicher als eine mutlose Wahrheit.«
Sie hat ihre Karriere im weiteren Sinne in der Erwachsenenausbildung begonnen, in Schulen weitergeführt und nutzt ihre Erfahrung in der Organisationsentwicklung um in der Verwaltung in der Schweiz für 15 Jahre zu arbeiten.
Wir werden daher eine Einsicht in die Situation der Schweiz bekommen, was mich freut, weil wir von der Schweiz im restlichen deutschsprachigen Raum ohnedies zu wenig erfahren, die Schweiz aber offensichtlich in einigen Bereichen sehr erfolgreich agiert; wir diskutieren aber auch über Deutschland und Österreich, sowie die globale Situation.
Wir beginnen mit der Frage, ob meine Ansicht, dass die Verwaltung das Rückgrat einer modernen Gesellschaft sei zutrifft? Wie spielen Exekutive, Legislative, Judikative und Verwaltung zusammen und — ist die Verwaltung damit die vierte Gewalt im Staate?
»Die Verwaltung schützt das gesetzte Recht und gleichzeitig hilft sie dabei es zu ändern.«
Ist die Verwaltung auch für Fragen »der Zukunft« verantwortlich, also Themen, die sich kurzfristigen ökonomischen Betrachtungen entziehen?
Mit dem Ansatz des New Public Management wurde der Anspruch gestellt, dass auch Verwaltungen effizient sein müssen, was zu einer deutlichen Verkleinerung in den letzten Jahrzehnten geführt hat. D.h. Aufgaben, die besser am freien Markt zu erledigen sind, wurde ausgelagert. Was ist das aktuelle Fazit dieser Veränderungen?
Auch stellt sich wieder das im Podcast häufiger genannte Dilemma zwischen Effizienz und Resilienz, das heißt der Fähigkeit sich auf eine unbekannte Zukunft mit neuen Herausforderungen und Risiken einzustellen.
»Most modern efficiencies are deferred punishment«, Nassim Taleb
Wie spielen politische Ideoligien (von sozialdemokratisch bis libertär) zusammen mit Verwaltung und: was zählen wir eigentlich zur Verwaltung? Eine weitere wichtige Rolle spielen staatsnahe Unternehmungen, die aber nicht im engeren Sinne zur Verwaltung zu zählen sind.
Wird die Verwaltung immer nur dann genannt, wenn etwas nicht funktioniert, oder anders ausgedrückt: leidet die Verwaltung darunter, dass sie im Kern unsichtbar wird, wenn sie (zu) gut funktioniert?
Wie geht die Verwaltung mit der zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Anforderung nach Transparenz um und ist Transparenz überhaupt ein Wert an sich? Wem verantwortet sich die Verwaltung gegenüber?
»Demokratie ist eine träge Maschinerie, konzipiert um Entscheidungen zu verlangsamen«, Herfried Münkler, zitiert in Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht
Wie sieht es mit Zeitlichkeit aus, nach Herfried Münkler — ist Verwaltung vielleicht auch ein notwendiges und sinnvolles dämpfendes Element einer modernen Gesellschaft? Standardisierung, Stabilität, Nachvollziehbarkeit waren der Erfolgsmuster der Vergangenheit — das bereitet uns zunehmend Schwierigkeiten. Aber nicht nur die Verwaltung hat Probleme sich der Geschwindigkeit der Zeit anzupassen, auch die Gesetzgebung kommt selten hinterher, sie wird von den Themen getrieben und setzt sie selten.
»Die Verwaltung als Bastion gegen Willkür«
Wird, wie so häufig, das gemessen, was sich leicht messe lässt: also der Kosten, und nicht der Nutzen — zum Schaden der Gesellschaft?
Was macht die »Digitalisierung« mit der Verwaltung, beziehungsweise die Verwaltung mit der Digitalisierung?
Dann unterhalten wir uns über den Unterschied zwischen Politik und Verwaltung, die sehr gegensätzlich sind: erstere laut, schnell und flach, die letztere still, konzentriert und tief?
Haben wir Angst, gesetzlich die Idee (und nicht jedes Detail) klarzustellen und Verwaltung beziehungsweise Exekutive mehr Freiheit in der Umsetzung zu lassen und versuchen wir stattdessen (erfolglos) alles bis ins Letzte zu regeln und zu bestimmen und scheitern dabei naturgemäß an der Komplexität und Geschwindigkeit der Welt? Haben wir also, anders gesagt, Angst selbstständig zu denken? Wollen wir jeden kleinsten Schritt vorbestimmt haben, wissend, dass dies zum Scheitern verurteilt ist?
»When I look at people I have hope. When I look at institutions I am hopeless«, Donella Meadows via Vicki Robin
Was sind die Krisen der letzten Jahre und Jahrzehnte zu beurteilen und welche Rolle spielen dabei Verwaltung und staatliche Strukturen (Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Versagen im Covid-Management usw.):
„Der Bund hatte die im Pandemiefall notwendigen organisatorischen Strukturen und personellen Grundvoraussetzungen nicht sichergestellt.“ und
„die Herausforderungen des Krisenmanagements in der COVID-19-Pandemie [waren] bislang ungelöst. Die seit Ausbruch der Pandemie gemachten Erfahrungen wurden zu wenig genutzt, um das Krisenmanagement im Sinne von Lessons Learned weiterzuentwickeln“, Rechnungshofbericht Österreich, Juni 2022
Also, nicht nur wurden erhebliche Fehler gemacht, man hat aus diesen bisher auch nicht nennenswert gelernt — ein rein österreichisches Problem?
Wie bekommt man Kompetenz, Schlagkraft, Handlungsfähigkeit und Agilität in die Verwaltung, die gleichzeitig auch Stabilität und Langfristigkeit sichern soll? Und damit im Zusammenhang: ist das Beamtenwesen überhaupt noch ein Zukunftsmodell, oder sollte die Verwaltung nicht vielmehr den Rest der Gesellschaft widerspiegeln?
Und nicht zuletzt zeichnet Frau Lévesque auch ein optimistischeres Bild für die Kooperation zwischen den Generationen — vom Übergang einer linearen in eine digitale Lebenslogik mit Hilfe anderer Denkmodelle der »Gamergeneration«?
Referenzen
Veronika Lévesque
- Institut für Arbeitsforschung und Organisationsberatung
- Veronika Lévesque am IAFOB
- Veronika Lévesque, Wie innovierend, agierend und selbstaktiv getrieben kann und soll eine Verwaltung sein? (2017)
Andere Episoden
- Episode 17: Kooperation
- Episode 25: Entscheiden unter Unsicherheit
- Episode 26: Was kann Politik (noch) leisten? Ein Gespräch mit Christoph Chorherr
- Episode 30: (Techno-)Optimismus — ein Gespräch mit Tim Pritlove
- Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, ein Blick hinter die Kulissen: Gespräch mit Herbert Saurugg
- Episode 45: Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?
Fachliche Referenzen
Monday May 23, 2022
057 — Konservativ UND Progressiv
Monday May 23, 2022
Monday May 23, 2022
Das Theme der heutigen Episode ist: Konservativ und Progressiv, die Betonung liegt dabei auf dem und; wie hoffentlich nach dieser Episode klarer sein wird.
Rutger Bregmans TED-Video über das bedingungslose Grundeinkommen hat mich »getriggert« über einen Themenbereich zu sprechen, der in anderen Episoden schon angekratzt wurde. Mir scheint es aber wesentlich zu sein, dieses Thema von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten. Außerdem ist die politische Dimension der Lagerbildung in sogenannte konservative und progressive Gruppen bisher noch nicht konkret angesprochen worden.
Wie verändern wir die Welt, sodass gerade nicht das bekannte Zitat »Das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint« zum Einsatz kommen muss?
Wie kommunizieren wir komplexe Probleme der Zeit in angemessener Weise?
Wie können wir zu einer Diskurs-Kultur kommen, die nicht an politischen Grenzen und Lagern zerschellt?
Was ist die Rolle von Wissenschaft? Sollte Wissenschaft und Aktivismus voneinander getrennt sein, weil Wissenschafter sonst das Risiko eingehen ihre oftmals enge Sicht zu überschätzen und sich, wie immer öfter zu beobachten ist, in fast religiösen Eifer steigern und damit ihre Glaubwürdigkeit verspielen.
Was ist das TED-Problem?
»The world out there is a complex place, and those who want “easiness” can always gorge themselves on TED talks.«, Evgeny Morozov
Kein komplexes Problem der Welt ist mit einfachen Mitteln und Ideen zu lösen. Es ist relativ einfach auf die Schwächen bestehender Systeme hinzuweisen, viel schwerer aber diese durch etwas besseres zu ersetzen:
»The high point of techno-democratic optimism was arguably 2011, a year that began with the Arab Spring and ended with the global Occupy movement.«, Jonathan Haidt
Welche Rolle spielen in diesem Dilemma konservative und progressive Ideen?
Underlying idea of conservatism: »There is an intuition, even if they don't think of it that way logically, that almost everything did not make it through evolution in terms of social systems. And the few things that did weren't the things people thought would. So there is a lot of embedded wisdom that wasn't understood, it was hard earned. And we want to preserve that and not break it because we think we understand it well enough and we might not.«
»Progressive intuition is that we deal with fundamentally novel situations evolution did not yet figure out and we need innovation.«
»And of course the synthesis of this dialectic is: we see new innovation that is commensurate with that what should be conserved. And not everything deserves to be conserved«, Daniel Schmachtenberger
Rutger Bregman hat Recht, wenn er sagt:
»I'm a historian. And if history teaches us anything, it is that things could be different. There is nothing inevitable about the way we structured our society and economy right now. Ideas can and do change the world.«
Die andere Seite aber spricht der britische Philosoph John Gray an:
»The world in which we find ourselves at the start of the new millennium is littered with the debris of utopian projects«
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 7 und Episode 8: Alles wird besser... oder nicht?
- Episode 29: Fakten oder Geshichten? Wie gestalten wir die Zukunft?
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 39: Follow the Science?
- Episode 45: Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 47: Große Worte
Fachliche Referenzen
- TED-Talk von Rutger Bregman: Poverty isn't a lack of character; it's a lack of cash (2017)
- Jesse Singal, The Quick Fix: Why Fad Psychology Can't Cure Our Social Ills (2021)
- Evgeny Morozov, To Save Everything, Click here (2013)
- Jonathan Haidt, Why the Past 10 Years of American Life Have Been Uniquely Stupid, The Atlantic (2022)
- John Gray, Black Mass, Apocalyptic Religion and the Death of Utopia (2011)
- Robert Greene, 48 laws of power (2010)
- How Sri Lanka's shifts to organic farming left it in the manure, The Times (2022)
- In Sri Lanka, Organic Farming Went Catastrophically Wrong. A nationwide experiment is abandoned after producing only misery. Foreign Policy (2022)
- Dark Horse Podcast, Brett Weinstein, Daniel Schmachtenberger (2021)
Friday Apr 29, 2022
056 — Kunst und Zukunft
Friday Apr 29, 2022
Friday Apr 29, 2022
In der heutigen Episode möchte ich ein Thema aufgreifen, über das ich schon längere Zeit nachdenke, wo ich aber bisher noch keinen guten Zugang gefunden habe. Das Thema ist »Kunst und Zukunft«. Mit anderen Worten: Welche Rolle spielt Kunst und Kultur in Betrachtung und Gestaltung unserer Zukunft, aber auch umgekehrt: wie wirkt Zukunft auf Kunst.
Ich freue mich daher ganz besonders für diese erste Episode in diesem Themenenbereich Hanno Rauterberg gewonnen zu haben:
Hanno Rauterberg ist Kunsthistoriker und stellvertretender Ressortleiter des Feuilletons der Wochenzeitung Die Zeit sowie Autor zahlreicher hervorragender Sachbücher.
Das Buch, das diese Episode motiviert hat ist »Die Kunst der Zukunft.« Daneben hat er aber eine Reihe weiterer Bücher veröffentlicht, unter anderem »Wie frei ist die Kunst« oder »Die Kunst und das gute Leben«.
In dieser Episode sprechen wir über die Kunst in der Zukunft aber auch über die Rolle, die Kunst spielt mit der Zukunft umzugehen.
Ich beginne mit der nur schwer zu beantwortenden Frage: Was ist Kunst? ist eine Definition möglich? Hier stellt sich auch eine Machtfrage: wer bestimmt (über Kunst)? Welche Aufgabe, welche Funktion hat die Kunst?
Ist Kunst eine konservative / konservierende / tradierende Brücke in die Vergangenheit oder ein progressiver, kritischer Blick der Gegenwart sowie ein Seismograph der Zukunft? Ist die Kunst gar elitär, belehrend oder ein Luxusgut, welche Rolle spielt der moderne Kunstmarkt? Muss Kunst Erwartungen enttäuschen? Will Kunst eine heilende Funktion wahrnehmen?
Dann sprechen wir über die Rolle des Museums. Geht es um Auswahl, Selektion oder um Verhandlung, was Kunst ist? Welche Rolle spielen dabei die klassischen Kriterien wie Komposition, Originalität, Ikonographie, handwerkliche Aspekte, Innovation technischer Merkmale? Tritt Produktion und Ästhetik in den Hintergrund? Wird Kunst zur Deklaration, »Ready Made« à la Marcel Duchamp, zur reinen Pose? Wann ist ein Werk abgeschlossen, wie verhält es sich mit Performance und Immersion?
»Die Kamera der Gegenwart ist ein hochgezüchteter Computer, eine Manipulationsmaschine, die darauf ausgelegt ist, das Wirkliche dem Idealbild ihrer Programmierer anzugleichen — und die zugleich dazu auffordert, das Foto nicht als Endprodukt zu verstehen, sondern als Rohmaterial, das lustvoll bearbeitet und den inneren Bildern der Fotografen angeglichen werden will.«
Welche Rolle spielt(e) Technik für Schöpfung (Methoden der Produktion, Distribution verändern sich nachhaltig) aber auch für die Rezeption und Interaktion mit Kunst und Künstlern? Das Private und öffentliche Leben sind nicht mehr so klar voneinander getrennt wie in der Vergangenheit, was sind die Folgen?
»Das Private wird als etwas öffentliches gestaltet und das Öffentliche als etwas Privates«
Der Technikphilosoph Günter Anders wesentliche Trends, die wir heute beobachten bereits in den 1960er Jahren beschrieben:
»Wenn das Ferne zu nahe tritt, entfernt oder verwischt sich das Nahe.«
sowie
»Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muß das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden.«
Dann sprechen wir über die Rolle von Machine Learning sowie neuen Formen der Vermarktung, wie etwa NFTs. Sind Maschinen kreativ und schaffen sie Kunst? Ist Kreativität das nicht vorhersehbare, was sind dann die Bilder von Wombo?
»In dem Maße, in dem Maschinen kreativ erscheinen, als begabte, künstlerhafte Wesen erscheinen, kann man sie auch für zivilisiert halten. […] Die Technik rückt uns Menschen näher.«
Die Technik soll also über »Kunst« anders in der Welt verankert werden!
»Nur die Maschine weiß noch, wie wir aus der Krise herauskommen […] darum müssen wir uns ihr anvertrauen«
Damit kommen wir von der menschlichen zur maschinellen Avant Garde? Ist das der freie Weg zum Transhumanismus? Die Maschinen als bessere Menschen?
»So überwindet der Mensch alles, was ihm fremd und bedrohlich scheint, nur um mit sich selbst zu fremdeln und das eigene Tun als Bedrohung wahrzunehmen.«
Zuletzt stelle ich die Frage, welche Rolle die Kunst in der Bewältigung unserer Zukunft spielt? Wir sprechen über gemeinschaftsstiftende Funktion der Kunst. Aber auch die schwere Greifbarkent. Die Kunst ist unwirklich, aber wie wirkt sie dann auf die Wirklichkeit?
»Das Bedürfnis nach dem Eigentlichen nimmt in dem Maße zu indem wir uns im Uneigentlichen Bewegen«
Ambivalenz wird somit produktiv erfahrbar?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 29: Fakten oder Geschichten? Wie gestalten wir die Zukunft?
- Episode 43: Deep Fakes: Wer bist du, und – was passiert da eigentlich?
- Episode 53 und 54: Data Science und Machine Learning, Hype und Realität
fachliche Referenzen
- Hanno Rauterberg, Die Kunst der Zukunft (2021)
- Hanno Rauterberg, Wie frei ist die Kunst? (2018)
- Hanno Rauterberg, Die Kunst und das gute Leben: Über die Ethik der Ästhetik (2015)
- Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen Teil 1 und Teil 2
- Wombo Art
- Anicka Yi (Gladstone Gallery)
- Anicka Yi (Tate Gallery)
Thursday Apr 07, 2022
055 — Strukturen der Welt
Thursday Apr 07, 2022
Thursday Apr 07, 2022
Dies ist eine Episode mit großer Tiefenschärfe, wenn man so sagen möchte; vielleicht eine, die mehr Fragen als Antworten aufwirft. Lassen Sie sich trotzdem auf das Thema ein, denn ich glaube, dass wir auf die Gedanken dieser Episode in der Zukunft zurückkommen werden!
Strukturen bestimmen unser Leben. Aber welche? Wie sind sie entstanden? Sind sie geplant, zufällig, veränderbar, unveränderlich?
Würde ein Außerirdischer unseren Planeten zum ersten Mal besuchen, welche Strukten würde er vorfinden, welche würden ihn vielleicht überraschen? In dieser Episode spreche ich im wesentlichen über drei beziehungsweise vier verschiedene Strukturen
- Alles was im weiteren Sinne »geologisch« bestimmt ist
- Leben auf unserer Erde
- Menschliche Artefakte
- Die Möglichkeit völlig neuartiger Arten menschlicher Artefakte in der Zukunft
Dabei mache ich einen Ausflug in die Ideen der Gaia-Hypothese von James Lovelock, der Frage, was Leben ist, gibt es überhaupt eine allgemein akzeptierte Definition, und warum ist diese Frage ziemlich entscheidend?
»Leben erscheint als geordnetes und gesetzmäßiges Verhalten der Materie, das nicht ausschließlich auf deren Neigung beruht, von Ordnung zu Unordnung überzugehen«, Erwin Schrödinger, Was ist Leben?
Warum entscheiden sich menschliche Artefakte fundamental von den anderen beiden genannten Strukturen?
»Life is the universe developing a memory«, Lee Cronin
Zuletzt stelle ich die wesentliche Frage, wie, nach welchem »Plan« die jeweiligen Strukturen geformt werden, wo dieser »Plan« gespeichert ist und welche wesentlichen Konsequenzen das für uns Menschen jetzt und in der Zukunft hat.
»Solang der Wirt nur weiter borgt // Sind sie vergnügt und unbesorgt.« (Mephisto)
Referenzen
andere Episoden
- Episode 17: Kooperation
- Episode 21: Der Begriff der Natur, oder: Leben im Anthropozän
- Episode 22: Biodiversität und komplexe Wechselwirkungen – Gespräch mit Prof. Franz Essl und Episode 33: Naturschutz im Anthropozän – Gespräch mit Prof. Frank Zachos
- Episode 23: Frozen Accidents
- Episode 45: Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 48: Evolution, ein Gespräch mit Prof. Erich Eder
- Episode 49: Wo denke ich? Reflexionen über den »undichten« Geist
fachliche Referenzen
- Erwin Schrödinger, Was ist Leben / What is Life (1951)
- Rupert Riedl, Die Ordnung des Lebendigen (1973)
- Stanford Encyclopedia of Philosophy, Life
- Lee Cronin im Lex Friedman Podcast #269: Origin of Life, Aliens, Complexity and Consciousness (2022)
- Richard David Precht, Erkenne die Welt: Geschichte der Philosophie 1 (2015)