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Monday Jan 30, 2023
068 — Modelle und Realität, ein Gespräch mit Dr. Andreas Windisch
Monday Jan 30, 2023
Monday Jan 30, 2023
Das Thema der heutigen Episode ist »Modelle«. Was ist ein Modell in Bezug zur Realität, welche Art vom Modellen gibt es und wie sollten wir als Gesellschaft mit Modellen umgehen, im besonderen bei Fragen, die das Verhalten komplexer Systeme in die Zukunft projeziert, wie etwa Klimamodelle.
Mein heutiger Gesprächspartner ist, und das freut mich besonders, ein wiederkehrender Experte, Dr. Andreas Windisch. Andreas ist ein theoretischer Physiker, der 2014 an der Universität Graz sub auspiciis praesidentis promoviert hat. Nach mehreren Jahren als PostDoc an der Washington University in St. Lous in den USA (Schrödinger Fellow des öst. Wissenschaftsfonds) kehrte er nach Österreich zurück, und übernahm die Rolle eines Forschungsteamleiters bei 'Know-Center', einem Forschungszentrum für KI.
Andreas ist Mitbegründer und Leader der Reinforcement Learning Community, einer eigenständigen Arbeitsgruppe, die Teil des unabhängigen Think Tanks 'AI AUSTRIA' ist. Zudem ist Andreas Honorary Research Scientist der Washington University in St. Louis, er betreut Start-Ups bei dem European Space Agency Inkubator Science Park Graz und lehrt KI an der FH-Joanneum. Seit März 2022 hält er auch eine Stelle an der TU-Graz.
Was ist ein Modell? Wie verhält sich ein Modell zur Realität, zur Natur? Welche Rolle spielen Variable und Freiheitsgrade? Andreas erklärt zunächst fundamentale Modelle — am Beispiel des Standardmodell der Teilchenphysik.
»Der Natur ist unsere persönliche Sichtweise natürlich egal.«
Damit ist die Suche nach der Abweichung vom Modell ein wesentlicher Aspekt der Modellierung. Was hat es mit der Filterung durch unsere Sinne und durch unsere Instrumente auf sich? Können wir überhaupt ohne Modell und Theorie Beobachtungen machen?
Warum ist Platons Höhlengleichnis ein gutes Beispiel für Modell und Realität?
Welche Arten der Modellierung gibt es? Vom bottom up / fundamentalen Modell zur Welt im Großen, zu effektiven Modellen? Damit stellt sich die Frage: kann ich die Welt im Großen aus dem fundamentalen Verständnis des Kleinstes modellieren? Also: kann ich mit dem Standardmodell der Teilchenphysik etwa das Klima modellieren? Sollte es nicht nur ein Modell der Welt geben?
Andreas erklärt, warum dies nicht möglich ist. Damit stellt sich die Frage: was ist eine Skala? Was sind Hierarchien von Modellen nach Skala und Fragestellung? Wir diskutieren Beispiele von der Quantenmechanik über die klassische Mechanik bis zur Relativitätstheorie und wieder zurück.
Wie verhält es sich im Übergang von einem Modell einer Skala oder Anwendungsbereich zu einem Modell einer andere Skala? Wo liegen die Grenzen und wie sieht es in den Übergangsbereichen aus? Wie weit kann Extrapolation gehen? Wenn ich Modelle außerhalb des Gültigkeitsbereiches »befrage«, bekomme ich Antworten, aber was ist von diesen zu halten?
Gilt die heute häufig formulierte Annahme: je mehr Daten desto besser (für die Entscheidungsfindung)? Die richtige Information und Abstraktion zur richtigen Zeit ist essentiell!
Wir sprechen weiters über mathematische Symmetrien, »Schönheit« und Qualität von Modellen, datengetriebenem (machine learning) vs. Modell-Zugang. Sind wir am Ende der Theorie angelangt, wie vor einiger Zeit behauptet wurde, oder war das ein Irrtum?
Wie repräsentativ sind die Daten mit denen modelliert wird im Bezug auf die Daten, die in der Realität zu erwarten sind? Ändert sich das über die Zeit der Modell-Nutzung?
Wir kehren dann wieder an den Anfang zurück und diskutieren ein fundamentales historisches Beispiel, das n-Körper-Problem, beziehungsweise eine vereinfachte Form davon, das Dreikörperproblem, das ja einfach physikalisch zu lösen sein sollte. Oder doch nicht? Warum nicht? Was sind die Erkenntnisse und Folgen dieses historischen Problems, getrieben von König Oskar II und Henri Poincaré?
Es kann doch nicht so schwer sein, die Bahnen von Sonne, Erde und Mond zu berechnen!
Aus diesem Beispiel folgend: Was sind (nicht-lineare) chaotische Systeme und was bedeutet das für Modellierung und Vorhersage, vor allem in Bezug auf die Anfangsbedingungen und die Möglichkeit diese genau zu bestimmen? Wie hängt dies mit den intrinsischen Zeitskalen des Systems zusammen? Liegen hier natürliche Grenzen der Vorhersagbarkeit, die wir auch mit stetig besseren Sensoren, Computern und Algorithmen nicht brechen können?
Was sind Attraktoren komplexer dynamischer Systeme und Tipping Points (auch Kipppunkte,Phasenübergänge oder Regime Shifts genannt)? Kann man vorhersagen, wann sich ein System einem Kipppunkt nähert?
Dann diskutieren wir die Konsequenzen für Risikomanagement, den Unterschied zwischen statistisch gut beschreibbaren und bekannten Systemen, versus komplexen chaotischen Systemen und dem Vorsorgeprinzip. Was können wir daraus für politische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse mitnehmen?
Passend zur vorigen Episode disuktieren wir auch das Risiko des »Overselling« wissenschaftlicher Erkenntisse und vor allem von Modell-Ergebnissen als Wissenschafter.
Zum Schluss stellen wir die Frage, wie weit wir als Gesellschaft kritischen Diskurs verlernt haben.
»Alle Experten sagen...« ist keine relevante Aussage, sondern ein rhetorischer Trick um Diskurs zu beenden.
Unterschiedliche Meinungen sind gerade bei komplexen (wicked) Problems von größter Bedeutung. Es gibt keine zentrale Anlaufstelle der Wahrheit, auch wenn das von manchen politischen Akteuren gerne so dargestellt wird. Was Information und Misinformation ist, stellt sich in der täglichen Praxis als sehr schwieriges Problem heraus. Auch die aktuelle Rolle der »alten« Medien ist stark zu hinterfragen.
Referenzen
Andere Episoden
-
Episode 79: Escape from Model Land, a Conversation with Dr. Erica Thompson
- Episode 67: Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch mit Stephan Schleim
- Episode 55: Strukturen der Welt
- Episode 53: Data Science und Machine Learning, Hype und Realität
- Episode 47: Große Worte
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 27: Wicked Problems
- Episode 25: Entscheiden unter Unsicherheit
- Episode 10: Komplizierte Komplexität
Andreas Windisch
- Andreas Windisch auf LinkedIn
- Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
Fachliche Referenzen
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Saturday Dec 31, 2022
067 — Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch mit Stephan Schleim
Saturday Dec 31, 2022
Saturday Dec 31, 2022
In dieser Episode führe ich ein äußerst interessates Gespräch mich mit Prof. Stephan Schleim. Er ist deutscher Philosoph und Psychologe, Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie Universität Groningen. Seine Spezialgebiete sind die Theorie und praktische Anwendungen der Psychologie und Neurowissenschaften. In seiner Forschung zur Wissenschaftskommunikation untersucht er, wie Darstellungen der Hirnforschung akademische und gesellschaftliche Debatten beeinflussen (z. B. in der Neuroethik oder dem Neurorecht).
Seit 15 Jahren ist er mit seinem Blog Menschen-Bilder bei den SciLogs vertreten, dem Portal für Wissenschaftsblogs des Spektrum-Verlags. Außerdem ist er Autor mehrerer Bücher.
Ich beschäftige mich ja schon länger mit der Frage, ob unser Wissenschaftsbetrieb nicht an einigen Stellen falsch abgebogen ist und was wir tun könnten, ja müssten um diese Situation zu verbessern. Warum ist es für uns wir als Gesellschaft wichtig, diese Problemlage zu verstehen? Denn wesentliche politische Entscheidungen hängen ja von wissenschaftlichen und technischen Aussagen und Möglichkeiten ab.
Wir beginnen unser Gespräch mit der Frage, ob sich die Erwartungen, die in der aus der Gesellschaft aber meist auch aus der Wissenschaft heraus an die Wissenschaft formuliert werden erfüllen? Schreitet Wissenschaft immer schneller voran? Führt dies stetig zu neuen und bahnbrechenden technischen Fortschritten?
Zahlreiche Untersuchungen legen eher das Gegenteil nahe. Wie sieht es nun mit Fortschritt und Qualität wissenschaftlicher Erkenntnis aus? Welche Anreizsysteme herrschen aktuell vor, nach welchen Indikatoren werden Wissenschafter gemessen, welche Definitionen von Produktivität gibt es in der Wissenschaft und was bedeutet dies für Erkenntnis und Innovation?
»Lässt man Kants akademischen Werdegang kurz Revue passieren, muss man zu dem Befund kommen, dass ein Denker wie Kant im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb keine Chance gehabt hätte. Im Gegenteil: Er verkörpert geradezu alles das, was dem Eifer der Universitätsreformer ein Dorn im Auge ist.«, Konrad Paul Liessmann
Es gibt nur noch selten in der modernen Wissenschaft solche positiven Beispiele, etwa den 3D-Atlas des Gehirns, wo das Ergebnis jahrzehntelanger, qualitativ hochwertiger Grundlagenforschung dargestellt werden.
»Die Wissenschaft befindet sich großteils in einem hermeneutisch abgeriegelten, selbstreferentiellen System.«
Was sind Beispiele für die Probleme, die wir beschreiben? Die 90er Jahre waren in den USA die Dekade des Gehirns. Auch Europa hat mit dem Human Brain Project nachgezogen — unter anderem mit dem Ziel, ein Gehirn im Computer zu simulieren. Was ist das Ergebnis dieser Dekade? Wir diskutieren Erwartungen und Versprechungen vom Gedankenlesen bis zum Lügendetektor; was waren die Folgen für die Diskussion des »freien Willen«, für Recht und Medizin?
In den letzten Jahrzehnten waren auch die »bunten Bilder« des Gehirns, die aus statistischen Auswertungen von Kernspintomographen entstehen, ein Hit in wissenschaftlichen Artikeln aber auch in populärwissenschaftlichen Berichten. Man konnte fast sagen: keine Psychologie ohne »Hirnbilder«!
Sind die Ergebnisse, die man mit der Kernspintomographie erhalten hat aber überhaupt vertrauenswürdig und korrekt? Beziehungsweise unter welchen Versuchsbedingungen kann man mit seriösen Ergebnissen rechnen und wurden diese in der Regel erziehlt? Also bleibt letztlich die Frage: können diese Hirnscanner, die richtig viel Geld kosten, überhaupt das Kriterium der Reproduzierbarkeit — als Mindeststandard wissenschaftlicher Qualität — erfüllen? War der Hype gerechtfertigt?
»Es gibt einige gute Studien, aber in der großen Masse sind viele dieser Studien, glaube ich, nicht vertrauenswürdig. […] Diesen Schluss muss man ziehen.«
Aber auch in zahlreichen anderen Bereichen der Psychologie und Psychiatrie erleben wir im Rückblick durchwachsene Ergebnisse, so etwa bei den wenig beeindruckenden Erfolgen der Antidepressiva in der Psychiatrie.
Ich spreche dann auch andere Hype-Themen der Vergangenheit an, und frage, warum wir aus diesen relativen Fehlschlägen so wenig lernen, z.B. Richard Nixon und den Krieg gegen den Krebs, Erik Topol und seine Kritik des Human Genome Projects sowie die mangelhafte Leistung von KI-Systemen in der Covid-Behandlung.
Wir diskutieren dann die Konsequenzen dieser Hypes, denn diese sind nicht einfach nur kurzfristige Irrtümer, sondern in ihnen stecken zum Teil enorme Opportunitätskosten und Kollateralschäden.
Wenn wir über die aktuelle Situation hinausschauen: »Wissenschaft die auch taugt« — was könnten wir die Standards sein? Prof. Schleim bezieht sich auf einen Artikel von Thomas Kuhn: Hartnäckigkeit und Dogmatismus ist manchmal auch ein wesentliches Mittel zum Erfolg in der Wissenschaft.
Die Behandlung von Aids kann als als Erfolgs-Beispiel gelten, auch die Entdeckung der PCR durch Kary Mullis, die psychiatrische Forschung mit Verengung auf Neuro-Wissenschaft allerdings als negatives. Überhaupt ist Kary Mullis ein gutes Beispiel für einen ultra-harnäckigen Wissenschafter gewesen, der in einem engen Bereich hohe Leistung gebracht hat, darüber hinaus aber eher für fragwürdige Ideen bekannt wurde.
Nun stellt sich aber die Frage: was für das Individuum des Wissenschafters gilt, gilt das auch für die Wissenschaft als Ganzes?
Und wo hört die Hartnäckigkeit auf und wird zum (sanften) Betrug? Fake it till you make it — ein wissenschaftliches Erfolgsmodell? Welchen Effekt haben New Public Management, Messen, Optimieren in der Wissenschaft(sverwaltung), Zitationsfaktoren, Impact-Faktor, usw?
»There is no cost to getting things wrong. The cost is not to getting them published.«, Prof. Brian Nosek
Wir erleben aktuell in vielen Bereichen einen Hyperwettbewerb und Bewertung von Forschung — wenn man in kurzen Zeiträumen »Durchbrüche« darstellen muss, um überhaupt überleben zu können — was wird das für Konseqzenzen für Richtung und Qualität und Vermarktung der Forschung haben?
Die Probleme, über die wir sprechen, sind bei weitem keine, die nur in den Interna der Wissenschaft Folgen haben, sondern breiten sich über Wissenschaftskommunikation und Expertenwesen in Gesellschaft und Politik aus? Hier ist auch der Aspekt zu sehen, dass die Verantwortung für diese Hypes auch an den Konsumenten liegt — eine Folge der Konkurrenz um Aufmerksamkeit.
Was ist überhaupt von Wissenschafts-News zu halten? Denn die Taktung wird immer höher — ist das sinnvoll oder sogar schädlich? Wissenschaft ist selten eindeutig, vor allem nicht in komplexen Fragestellungen. Führt das nicht eher zu Verwirrung statt Information bei der Bevölkerung?
Kann mehr Transparenz in den wissenschaftlichen Prozess die Situation verbessern? Können wir vom Rechtswesen lernen — was sind Folgen für wissenschaftliche Freiheit, politische Freiheit und Demokratie? Was können wir aus den Erfahrungen erfolgreicher Wissenschafter lernen?
Ohne die Freiheit, "Sachen zu machen die nicht Mainstream waren", sei seine Forschungsarbeit nicht möglich gewesen, Anton Zeilinger
Max Perutz, der österr. Wissenschafter, der von den Nazis nach England fliehen musste, hatte in seinem Labor neun Nobelpreisträger! Auf die Frage, wie man so erfolgreich wird antwortet er:
»Keine Politik, keine Gremien, keine Berichte, keine Gutachter, keine Interviews, nur begabte, hoch-motivierte junge Menschen, ausgewählt von wenigen Männern mit gutem Blick.«
Und was machen wir im heutigen Wissenschaftsbetrieb?
Einer der Ursachen für die Probleme im aktuellen Wissenschaftsbetrieb ist das Publikations(un)wesen: welche Rolle spielen kommerzielle Verlage, Open Access, Preprint, sind Daten und Prozesse transparent?
Welche Rolle spielt der Antrags-Irrsinn und die damit verbundene Bürokratie? Die bekannte amerikanische Tiefsee-Forscherin Edith Widder bringt den Konflikt zwischen innovativer Forschung und Finanzierung auf den Punkt:
»Die Sache ist die: In der Wissenschaft muss man den Förderstellen erklären, was man entdecken wird, bevor sie einem Geld geben. Und ich wusste nicht was ich entdecken werde. Somit bekam ich keine Unterstützung.«
Wo und in welchem Umfang macht Antragswesen Sinn, in welcher Form, und wo ist es ein Hindernis für gute Wissenschaft und verhindert vor allem auch, dass gute Wissenschafter Karrieren machen. Welcher innovative und kreative Wissenschafter ist Willens 30-40% seines Alltags mit stumpfer Bürokratie und Antragschreiben zu verbringen? Welche Folgen hat dies daher für die Selektion an Universitäten?
Eric Weinstein nennt dies passend: »snap-to-grid intellectualism«
Führen diese Prozesse zu kontroproduktiven Anpassungsprozessen an Indikatoren, Bürokratie, Regeln usw. Lenken wir also die verbleibende Intelligenz der Forscher weg von der Forschung hin zum Übergehen und Ausnutzen von Regeln und Bürokratie?
Einfache Versprechungen und Aussagen treffen in der Realität sehr schnell an ihre Grenzen und so ist es auch nicht einfach Schritte aus der Krise zu finden. Ein erster Ansatzpunkt findet sich etwa in der Magna Charta Univesitatum.
Referenzen
Andere Podcast
- Episode 53 und Episode 54: Data Science und Machine Learning, Hype und Realität
- Episode 47: Große Worte
- Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
- Episode 39: Follow the Science?
- Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 19 und Episode 20: Offene Systeme
- Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
Stephan Schleim
- Homepage von Stephan Schleim
- Stephan Schleim auf Twitter
- Menschen-Bilder Blog
- Stephan Schleim an der Universität Groningen
- Universität Groningen
- Die Neurogesellschaft: Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert, Heise (2010)
- Psyche & psychische Gesundheit: Philosophen, Psychologen und Psychiater im Gespräch, Heise (2020)
- Wissenschaft und Willensfreiheit: Was Max Planck und andere Forschende herausfanden, Springer (2023)
- Stephan Schleim, Sind Hirnscans nur Kaffeesatzleserei?
Fachliche Referenzen
- Nicholas Bloom, Are Ideas Getting Harder to Find? (2020)
- How should medical science change, Lancet (2014)
- Economist: How Science goes wrong
- Trouble at the lab | The Economist
- Rettet die Wissenschaft,Die Zeit (2014)
- Konrad Paul Liessmann, Kant — Dienst ohne Vorschrift, Der Standard (2004)
- Eric Topol, Human genomics vs Clinical genomics — Expectation vs. Facts
- Thomas Kuhn, The Function of Dogma in Scientific Research, 1963
- John P. A. Ioannidis, Why Most Published Research Findings Are False (2005)
- Warum KI-Werkzeuge gegen COVID-19 bislang versagt haben, Heise (2021)
- Physik Nobelpreis für österr. Quantenphysiker Anton Zeilinger (2022)
- Zitat Max Perutz aus Geoffrey West, Scale: The Universal Laws of Life and Death in Organisms, Cities and Companies, W&N (2018)
- Edith Widder, Glowing life in an underwater world, TED-Talk
- Magna Charta Univesitatum
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Friday Dec 16, 2022
066 — Selbstverbesserung — ein Gespräch mit Prof. Anna Schaffner
Friday Dec 16, 2022
Friday Dec 16, 2022
Das Thema Selbst-Verbesserung mag auf den ersten Blick wie eines wirken, das keinen großen gesellschaftlichen Bezug hat. Selbst-Vebesserung beziehungsweise Selbst-Optimierung hat teilweise auch einen schlechten Ruf, wenn man an die Bücherregale gefüllt mit fragwürdigen Ratgebern denkt, die so in den meisten Buchhandlungen zu finden sind, ganz zu schweigen von Coaching-Podcasts und YouTube-Videos.
Das Thema hat mich dann aber doch für eine Episode sehr angesprochen, nachdem ich das hervorragende Buch von Prof. Anna Schaffner gelesen. Anna Katharina Schaffner ist Professorin an der Univ. Kent und Executive und Personal Coach. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, unter anderem Exhaustion: A History und The Art of Self-Improvement: Ten Timeless Truths und hat neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch Artikel für Guardian, Psychology today und times Literary Supplement verfasst.
In diesem Gespräch beziehe wir uns im wesentlichen auf ihr letztes Buch zum Thema Selbst-Verbesserung. Prof. Schaffner arbeitet nicht nur den historischen Kontext der »Selbst-Verbesserungs-Ideen« auf, die Rolle, die sie für uns als Individuen hat, sie stellt diese auch in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext und öffnet damit auch den wichtigen Diskurs, wie wir uns als Gesellschaft auf die Zukunft vorbereiten können. Eine solche Vorbereitung hat eine persönliche, aber eben auch eine soziale Komponente.
Dabei verwendet sie den Begriff Self-Improvement, im Deutschen: »Selbstverbesserung« und nicht Selbst-Optimierung, wie sie im Podcast erklärt.
»Esse est percipi«, George Berkely
Zunächst stelle ich die Frage nach der Freiheit, die ja eine Grundlage für Selbstverbesserung zu sein scheint. Woher kommt unser Begriff der Freiheit? Hat Freiheit ein rein positives Moment oder ist sie gar eine Belastung (für viele Menschen)? Erkennen wir Selbstverwirklichung als Möglichkeit oder gar als Zwang? Alain Ehrenberg spricht von der
»Müdigkeit des Selbst, das sich permanent selbstverwirklichen muss«
Erleben wir also Freiheit zwischen Selbstverwirklichung und Selbstversagen? Außerdem: wie frei sind wir wirklich? Sind wir eine »Blank Slate«, eine leere Tafel, die nur beschrieben werden muss und beliebig beschrieben werden kann, oder ist alles determiniert, also vorherbestimmt? Welche rolle spielen einschränkende Strukturen der Gesellschaft?
Sehen wir im Extremen vielleicht sogar »Victim-blaming«, also ein Herunterblicken auf Opfer der Freiheit, auf Menschen, denen es nicht gelungen ist, sich selbst zu verwirklichen, ihre Freiheit »zu nutzen«? Die Wurzeln dieses Problems scheinen aber älter zu sein, wie wir am Beispiel des Calvinismus diskutieren:
»Calvinismus — weltlicher Erfolg als Zeichen, dass man zu den Auserwählten gehört.«
Pervertiert eine implizite Forderung zur Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung gar die Freiheit, die wir gerade erst gewonnen haben?
»Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein. Episode heißt Zwischenstück. Das Gefühl der Freiheit stellt sich im Übergang von einer Lebensform zur anderen ein, bis sich diese selbst als Zwangsform erweist. […] «
»Wir leben in einer besonderen historische Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine.«, Byung-Chul Han
Prof. Schaffner zitiert in diesem Zusammenhang Franz Kafka:
»Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst um Herr zu werden und weiß nicht, dass das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn«
Welche (externen) Wertesysteme haben wir also unbewusst internalisiert? Sind diese gesund für uns? Wie können wir und selbst verbessern ohne uns gleichzeitig unserer Freiheit zu berauben, zumal in unserer Gesellschaft Bedeutung, Status und Identität oftmals mit einer eher oberflächlichen Ideen des Erfolgs verwoben sind?
Was ist von der Ratgeber-, der Self-Help-Industrie zu halten? Was ist der Unterschied zwischem »Mac Self-Help« und philosophisch fundierteren Ideen? Hat die zeitgenössische Philosophie hier eine wesentliche Wurzel — die Beschäftigung mit dem »guten Leben« vergessen?
»Der Mensch wird am Du zum Ich«, Martin Buber
Dann tauchen wir noch einmal tiefer in die Vergangenheit und Grundlagen ein und stellen die Frage nach dem Selbst. Was ist eigentlich »das Selbst«? Und was zählt als Verbesserung? Wie sind diese Ideen historisch einzuordnen? Prof. Schaffner erklärt dabei drei verschiedene Entwürfe des Selbst:
- relationales Selbst
- kein Selbst (in der buddhistischen Interpretation)
- atomares, individualistisches Selbst und homo oeconomicus
Sollten wir im Westen eine Rückkehr von starken individualistischen Ideen hin zu einem relationaleren Selbst suchen, gar »planetare Wesen« werden? Warum ist diese Frage für die Herausforderungen der Zukunft von großer Bedeutung?
Wie spielt das Dilemma zwischen Bildung und Ausbildung — im Sinne des Humboldtsches Ideals hier hinein? Und welche Rolle spielt das Systemdenken, beziehungsweise der Generalismus? Pointiert formuliert: erleben wir gerade in der Krise ein Abwendung vom »Fachidiotentum«?
Was ist die Rolle von Kultur und Ritualen, Zeremonien? Altmodisch und irrelevant, oder wesentliche Anker auch für moderne und zukünftige Gesellschaften?
Was ist vom heute sehr modischen Begriff der Authentizität zu halten?
»Authentisch ist der Mensch offensichtlich nur dann, wenn er sein Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach außen stülpt. Und das bedeutet letztlich: Authentizität ist das Gegenteil von Kultur. […] Anthropologisch ist das zwar Irrsinn, denn der Mensch ist bereits seiner Natur nach ein Kulturwesen, doch lässt dies der Authentizitätsdiskurs weitgehend außer Acht, der voraussetzt, dass sich unser unverfälschtes Ich in uns selbst findet und sich nicht in unserem Zusammenspiel mit Kultur und Gesellschaft entwickelt.«, Thomas Bauer
Wie spielt der heutige Begriff der Authentizität mit der Romantik als Geburt des Individualismus zusammen? Wo ist die Grenze zwischen Authentizität und performativem »Oversharing«, oder gar bis zum »vulnerability porn«?
Was bedeuten die Überlegungen zu Selbstverbesserung und Coaching für die heutige Arbeitswelt? Nur was messbar — quantifizierbar ist — ist etwas wert?
Und zuletzt, was bedeuten diese Überlegungen nun für die Zukunft der Gesellschaft und nicht nur des individuums? Verbreiten sich Tugenden (nach Konfuzius) wie gutartige Viren? Ist intellektuelle Bescheidenheit — vielleicht gar Weisheit — noch eine zeitgemäße Tugend?
»Wir dürfen nie vorgeben zu wissen, und dürfen nie große Worte gebrauchen«, Karl Popper
Der Mensch ist, nach Arnold Gehlen ein Mängelwesen, und Rupert Riedl macht schon in den 1970er Jahren deutlich:
»Der menschliche Verstand ist nicht dazu geschaffen, komplexe Systeme zu verstehen«
Aber wie weit geht; soll die Verbesserung die technische Erweiterung des Menschen gehen? Ist sie nicht notwendig um mit der wachsenden Komplexität unserer techno-sozialen Systeme umgehen zu können? Wo ist die Grenze? Sind die Ideen des Transhumanismus nicht letztlich die logische Konsequenz (und das natürliche Ende) der Selbst-Verbesserung? Gibt es eine (vernünftige) Grenze der technischen Verbesserung menschlicher (kognitiver) Fähigkeiten?
»The faith in Utopia, which killed so many in the centuries following the French Revolution, is dead.«, John Gray
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 17: Kooperation
- Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 47: Große Worte
- Episode 49: Wo denke ich? Reflexionen über den »undichten« Geist
- Episode 50: Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr
Anna Schaffner
- Executive and Personal Coaching | Exhaustion and Burnout Coaching
- Exhaustion: A History, Columbia University Press (2017)
- The Art of Self-Improvement: Ten Timeless Truths, Yale University Press (2021)
- The Truth about Julia, Atlantic Books (2016)
- Artikel in Psychology Today
Fachliche Referenzen
- George Berkeley
- Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Campus (2015)
- Byung-Chul Han, Psychopolitik, Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer (2014)
- Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Reclam (2018)
- Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt (1987)
- Arnold Gehlen, Der Mensch, Klostermann Vittorio (2016)
- Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1982)
- John Gray, Black Mass, Penguin (2008)
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Monday Nov 28, 2022
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Monday Nov 07, 2022
064 — Getting Nothing Done — Teil 1
Monday Nov 07, 2022
Monday Nov 07, 2022
Titel der heutigen Episode ist »Getting Nothing Done« — warum die höchst-technisierte Gesellschaft der Menschheit (jedenfalls in den Industrienationen) bei wesentlichen Infrastrukturprojekten kaum mehr etwas auf die Reihe bekommt. In dieser Episode möchte ich eine Diskussion über ein sehr wichtiges Thema anstossen, über das ich in der letzten Zeit intensiv nachdenke.
Teilen Sie meine Ansichten, oder nicht? Hat diese Episode Sie zum Nachdenken angeregt? Schreiben Sie mir!
Es gibt auch eine englischsprachigen Artikel (mit Illustrationen) von mir zu diesem Thema in den Referenzen.
Beschäftigt man sich ein wenig mit der Vergangenheit, ist es geradezu atemberaubend, welche — zur damaligen Zeit noch neue — Infrastrukturen wir in kurzer Zeit umsetzen konnten — vom Panamakanal über die Wiener Hochquellwasserleitung bis zum Messmer Plan in Frankreich.
In den letzten Jahren erleben wir allerdings, so mein Argument, geradezu eine bleierne Stagnation, und dies nicht bei »innovativen« Projekten, sondern bei Projekten, die wir hunderte oder tausende Male in der Vergangenheit gebaut haben: Konzerthallen, Brücken, Eisenbahnstrecken, Flughäfen, Kernkraftwerke, Tunnel.
»I contrast the now common belief in an ever-faster pace of innovation with the many unmistakable signs of technical stagnation and slowing advances: there are limits to everything, and invention and innovation cannot be exceptions.«, Vaclav Smil
Dieses Problem beschränkt sich nicht auf die »physische« Welt, sondern findet sich in ähnlicher Weise in der virtuellen Welt der Software. Dazu kommt, dass Software/IKT und physische Infrastruktur in immer stärkerer Weise miteinander verbunden sind, was die Problemlage verschärft.
»Die niedrig hängenden Früchte sind größtenteils gepflückt worden, zumindest im Moment. [...] Die Große Stagnation hält an und verschlimmert sich sogar noch, angetrieben von einer zunehmend dysfunktionalen Politik.«, Tyler Cowan
Im ersten Teil versuche ich die Problemlage und Kontext darzustellen und im zweiten Teil Ursachen zu untersuchen, die in fünf Gruppen fallen:
- Enttäuschung über die Digitalisierung und allgemeine Stagnation in Forschung und Technologie
- Regulierung, Bürokratie und Fokusverlust
- Furchtgetriebenes Management und Verrechtlichung der Gesellschaft
- Fokus
- Spezifischer Verlust der Fähigkeit, große Projekte zu realisieren
Zuletzt gebe ich mögliche Pfade an, wie die Situation (in Europa) verbessert werden könnte. Der wesentlichste Aspekt scheint mir aber zu sein, diese Problematik breiter zu diskutieren und zur Kenntnis zu nehmen, und sich nicht in Hype- und Innovations-Marketing-Gerede zu verlieren.
»Der Forschungsaufwand steigt erheblich, während die Forschungsproduktivität stark abnimmt. [...] es dauert etwa 13 Jahre, bis die Forschungsproduktivität um die Hälfte sinkt. Oder anders ausgedrückt: Die Wirtschaft muss ihre Forschungsanstrengungen alle 13 Jahre verdoppeln, nur um die gleiche Gesamtwachstumsrate aufrechtzuerhalten.«, Nicholas Bloom
Der Fokus reicht dabei von erheblichen Qualitätsproblemen in der Wissenschaft bis zu Regulierung und Management-Prinzipien.
Weiter geht es mit Teil 2 hier.
Referenzen
Andere Episoden
- Englischer Artikel im (an)sichten Blog
- Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
- Episode 23: Frozen Accidents
- Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 31: Software in der modernen Gesellschaft – Gespräch mit Tom Konrad
- Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann
- Episode 40: Software Nachhaltigkeit, ein Gespräch mit Philipp Reisinger
- Episode 47: Große Worte
- Episode 59 und 60: Wissenschaft und Umwelt
Fachliche Referenzen
- Lee Vinsel, The Innovation Delusion, Currency (2020)
- Years of Delays, Billions in Overruns: The Dismal History of Big Infrastructure, New York Times (2021)
- »Software Crisis«: Software Engineering, Report on a conference sponsored by the NATO Science Committee, Garmisch, Germany, 7th to 11th October 1968
- »Facebook [ist] als datenverarbeitender Apparat so komplex, dass er sich dem Verständnis von innen heraus entzieht« (2022)
- Massive Datenpanne bei Uber: »Sie haben so vollen Zugriff auf Uber« (2022)
- »Ransomware legt US-Pipeline lahm« (2021)
- Syniverse verarbeitet jährlich Milliarden von Textnachrichten, und Hacker hatten jahrelang unbefugten Zugriff auf das System." (2021)
- »Ein Computerhacker hat sich Zugang zum Wassersystem einer Stadt in Florida verschafft und versucht, eine "gefährliche" Menge einer Chemikalie hineinzupumpen, sagen Beamte. [...] Aber ein Arbeiter entdeckte es zufällig und machte die Aktion rückgängig.« (2021)
- Lidl Cancels SAP-introduction after having sunk 500 Million into it
- Robert Gordon, Is US economic growth over? Faltering innovation confronts the six headwinds, Working Paper 18315 (2012)
- Tyler Cowan, The Great Stagnation, Dutton (2011)
- Eric Weinstein and Peter Thiel, The Portal #001 (2019)
- David Graeber im Gespräch mit Peter Thiel "Where did the Future go?" (2020)
- Brian Potter, When did New York start building slowly? (2023)
- Nassim Taleb, Skin in the Game, Penguin (2018)
- Nassim Taleb, What do I mean by Skin in the Game? My Own Version, Medium (2018)
- Gerd Gigerenzer, Risiko, Bertelsmann (2013)
- Marc Andreessen im Gespräch mit Sam Harris, Making Sense #290 (2022)
- David Graeber, The Utopia of Rules, Melville House (2016)
- David Graeber, Bullshit Jobs, Penguin (2019)
- Lukas Feiler erklärt in einer Podiumsdiskussion im Gespräch mit mir
- Vaclav Smil, Invention and Innovation: A Brief History of Hype and Failure, MIT Press (2023)

Sunday Oct 16, 2022
063 – Museum der Zukünfte — ein Gespräch mit Dr. Gabriele Zipf
Sunday Oct 16, 2022
Sunday Oct 16, 2022
In Berlin gibt es ein Museum, ein Haus der Zukunft, das Futurium. Ich halte es für eine hervorragende Idee einen Raum zu schaffen, in dem über die Zukunft (beziehungsweise Zukünfte) diskutiert wird, vor allem auch darum, weil sich dieses Museum auch stark an Kinder, beziehungsweise junge Menschen wendet.
Es hat mich folglich sehr gefreut, dass die Leiterin der Ausstellung, Frau Fr. Dr. Zipf sich zu einem Gespräch bereiterklärt und mich ins Futurium eingeladen hat.
Im Gespräch stelle ich die Frage, warum Zukunft im Plural, also Zukünfte verwendet wird: Ziel ist das Aufzeigen von Möglichkeiten. Aber wie weit ist Zukunft gestaltbar, von wem, welche Rolle spielt das Individuum? Wie kann der Versuch, Zukunft vorstellbar machen funktionieren?
Dr. Zipf ist Archäologin und da stellt sich naturgemäß die Frage: wie passt die Archäologie zur Beschäftigung mit der »Zukunft«? Gibt es eine Herangehensweise an »Zeit«? Kann man möglicherweise Prinzipien aus der Geschichte ableiten?
»Die Geschichte wiederholt sich nicht«
Und dennoch ist, wie sich im Gespräch zeigt, die Beschäftigung mit der Vergangenheit von Wert, wenn man in die Zukunft blicken möchte. So diskutieren wir die Notwendigkeit eines inter- und intradisziplinären, also eines multiperspektivischen Blicks. Was ist die Rolle von Generalisten versus Spezialistentum, der Philosophie?
Das Futurium selbst besteht aus vier verschiedene Ebenen:
- Ausstellung
- Lab
- Veranstaltungen
- Digitales Futurium
Kann ein Haus, beziehungsweise ein Projekt wie das Futurium eine vermittelnde, eine Generalisten-Rolle einnehmen? Wie versucht das Futurium die »futures literacy« zu verbessern — also pädagogische Ansätze zu entwickeln um auch junge Menschen eine kritische aber konstruktive Perspektive der Zukunft anschaulich zu machen?
Was ist von Zukunftsforschung zu halten (jenseits von Individuen die sich breit inszenieren, deren Vorhersagen aber selten zutreffen?)? Was sagen die Bilder, die wir uns von der Zukunft machen über uns aus?
Dann diskutieren wir die sehr prinzipelle Frage, was ist eigentlich eine gute Zukunft? Das führt uns das zur Frage des Fortschrittes:
»Wir verwechseln systematisch Fortschritt mit Innovation.«, Harald Welzer
Apropos Innovation: Erleben wir wirklich eine solche Beschleunigung, wie das gängige Narrativ suggeriert, oder eher eine Stagnation? Was wir heute als Zukunft diskutieren, haben wir schon vor 30 Jahren diskutiert — vielleicht sogar noch früher.
»Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.«, Johann Nestroy
Helfen Dystopien, die Menschen zu bewegen, oder ist das zwar ein narrativ einfacher, aber letzlich wenig hilfeicher Pfad? Wie kommen wir von den Dystopien und einfachen Klischees/Stereotypen hin zu einer konstruktiven und sinnvollen Diskussion der Zukunft?
Wie können wir mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft umgehen: wieweit hilft Innovation? Wie kommen wir zu einer gemeinsamen Sicht auf Fortschritt? Wollen wir radikalen Wandel (siehe etwa die Vorstellungen Le Corbusiers, wie Paris umzugestalten wäre), Transformation, evolutionäre Veränderung?
Gibt es Kipp-Punkte in der Technik und Gesellschaft, die dazu führen können, dass eine an sich bekannte Technik (endlich) den Durchbruch schafft (siehe auch das Beispiel der Elektro LKWs in London 1917)?
Die Geschichte lehrt und jedenfalls eines: dass das, was aktuelle Generationen für richtig halten, nicht immer den Test der Zeit besteht. Was können und sollen wir tun um einerseit in unserer Zeit zu handeln, andererseits aber Handlungsspielraum für zukünftige Generationen zu erhalten?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 15: Innovation oder Fortschritt?
- Episode 17: Kooperation
- Episode 23: Frozen Accidents
- Episode 28: Jochen Hörisch — Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
- Episode 45: Mit Reboot oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 50: Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr
- Episode 59, 60: Wissenschaft und Umwelt
Futurium
Fachliche Referenzen
- Toronto wants to kill the smart city forever, MIT Technology Review (2022)
- Frank Schirrmacher, Neil Armstrongs Epoche: Das Drama einer Enttäuschung, FAZ Feuilleton (2012)
- Lorries being refuelled at St Pancras goods depot, London, 11 July 1917
- Frozen Accidents: Stewart Brand, How Buildings Learn, Penguin Books (1995)
- Why Architect Le Corbusier Wanted To Demolish Downtown Paris, Business Insider (2013)
- David Graeber, Bürokratie, Die Utopie der Regeln, Goldmann (2017)
- Attila Hörbiger, Johann Nestroy, Lumpazivagabundus
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Tuesday Sep 20, 2022
062 — Wirtschaft und Umwelt, ein Gespräch mit Prof. Hans-Werner Sinn
Tuesday Sep 20, 2022
Tuesday Sep 20, 2022
Ich habe mich in früheren Episoden öfter mit Umweltfragen beschäftigt, im besonderen auch in Episode 59 und 60. Bisher ist aber die Rolle der Wirtschaft beziehungsweise der Wirtschaftswissenschaften zu kurz gekommen. Daher freut es mich ganz besonders, mit einem der führenden deutschen Ökonomen ein Gespräch führen zu können:
Prof. Hans-Werner Sinn ist Jahrgang 1948, studierte Volkswirtschaftslehre in Münster. Von 1984 bis 2016 war er Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Hinzu kamen Gastprofessuren und Forschungsarbeiten an der University of Western Ontario in Kanada, der London School of Economics sowie an den Universitäten Bergen, Stanford, Princeton und Jerusalem. Von 1999 bis 2016 war Hans-Werner Sinn Präsident des ifo Instituts, stand als Direktor dem Center for Economic Studies (CES) der LMU vor und war Geschäftsführer der CESifo GmbH, eine gemeinsame Initiative der LMU und des ifo Instituts.
Prof. Sinn kritisiert bereits seit vielen Jahren aus, wie ich meine, gutem Grund die deutsche Energiewende. In meinem Archiv habe ich einen Artikel aus dem Manager-Magazin aus dem Jahr 2014 gefunden, der bereits wesentlichen Probleme, die wir heute auch aufgreifen werden, beschreibt und der sich auch über die Jahre als zutreffend herausgestellt hat. Deutschland wäre meiner Einschätzung nach großer Schaden erspart geblieben, wenn man diese Kritik ernst genommen hätte.
Vor wenigen Monaten bin ich dann wieder auf einen Vortrag von Prof. Sinn gestossen, und zwar zum Klimasymposion — Konstanz Mai 2022 — mit dem Titel »Die Globale Energiewende: Sechs große Probleme«.
Dieser Vortrag hat mich sehr beeindruckt und ich werde auf wesentliche Themen, die Prof. Sinn in diesem Vortrag beschreibt im folgenden Gespräch bezugnehmen. Ich empfehle daher diesen Vortrag vorweg zu hören. Die sechs Probleme die in diesem Vortrag genannt werden sind:
- In Paris akzeptiert nur eine Minderheit von 61 der 191 Unterzeichner eine verbindliche quantitative Emissionsbeschränkung
- EU hat sich utopische Ziele gestellt. Deutschland will sogar gleichzeitig aus Kernkraft und Kohle aussteigen und hat sich dadurch von anderen Ländern abhängig gemacht
- Wind- und Sonnenstrom sind viel zu volatil um eine preisgünstige Vollversorgung zu gewährleisten
- Europa drangsaliert Autoindustrie und verstößt gegen Gesetzt des »einen Preis«. Der Markt als Entdeckungsverfahren für CO2-arme Technologie wird ausgeschaltet
- Beim deutschen Energiemix sind die E-Autos nicht CO2-günstiger als Dieselautos
- Bei handelbaren Brennstoffen ist der Effekt des europäischen Verzichts nicht nur klein sondern null
Wir sprechen in dieser Episode daher im besonderen über die deutsche Energiewende, aber auch generell über die Rolle der Ökonomie, beziehungsweise Wirtschaftswissenschaften, wenn es um die Bewältigung der ökologischen Probleme der Zeit und der Zukunft geht.
Eine für mich dabei wichtige Metafrage ist folgende: Keiner der sechs Probleme, die Prof. Sinn in seinem Vortrag darlegt scheinen besonders schwierig zu verstehen zu sein; im besonderen nicht die ersten drei, die schon ausreichen, um etwa die deutsche »Energiewende« in Frage zu stellen. Wie kann es sein, dass eine moderne und gebildete Gesellschaft, deren politische Vertreter und Medien diese fundamentalen Kritikpunkte kaum oder nur auf sehr niedrigem Niveau diskutiert?
»Utopien sind für Träume schön, aber für eine reale Politik macht das keinen Sinn«
Wie kommen wir von Wunschvorstellungen zu realem Fortschritt, der unsere Gesellschaft nicht im Kern gefährdet? Welche Rolle spielen »Externalitäten« in der Wirtschaft?
»Bei der Erderwärmung haben wir einen erheblichen Misstand, und dieser muss bekämpft werden«
Technik und Moral alleine werden dafür nicht ausreichen. Wie können die Menschen (global) dazu bewegt werden das Richtige zu tun? Die aktuellen Maßnahmen sind nicht nur wenig dazu geeignet das Problem anzugehen, sie sind in weiten Bereichen kontraproduktiv.
»Die Windräder sind keine zweckdinglichen Bauten für den Naturschutz, sondern es sind Sakralbauten. […] jeder Windflügel der errichtet wird ist sichtbar für jeden ein Nachweis dafür, wie dominant diese neue Religion ist.«
Was sind dann aber sinnvolle Maßnahmen? Kann Emissionshandel hier ein wesentlicher Puzzlestein sein? Wie geht man damit um, dass jeder Ansatz letztlich eine globale Perspektive hat? Wie soll die politische Seite einer tatsächlich funktionierenden Energiewende organisiert werden? Staatlich getrieben (mit welchen Maßnahmen?), libertär oder auf freiem Markt aufgebaut?
Was ist die Rolle der Wissenschaft? Beobachten wir bei wesentlichen Zukunftsthemen gerade eine zunehmende Verschränkung schlechter Forschung gepaart mit Aktivismus? Beschädigen Publikationszwang und Finanzierung aus der Wirtschaft den Wissenschaftsbetrieb?
Was ist die Rolle de Ökonomie? Erleben wir nicht seit Jahrzehnten eine Selbstüberschätzung der Wirtschaftswissenschaft, oder jedenfalls lautstarker Ökonomen in der Öffentlichkeit — denken wir an Prognostik und an die Idee steten Wirtschaftswachstums?
Prof. Sinn beschreibt die neoklassische Theorie als Suche nach Externalitäten und Markt-Fehlern. Welche sind dies?
Welche Rolle spielte die Studie des Club of Rome 1972 und das Symposium on the Economics of Exhaustible Resources 1974. Was bedeutet Wachstum für ökonomische Theorien und Modelle? Gibt es die oft zitierte Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Verbrauch an Ressourcen?
Welche Rolle spielt die Populationsgröße, ein politisch und ethisch sehr schwieriges Thema?
Zum Abschluss frage ich Prof. Sinn, was er einem jungen Menschen raten würde, der einen positiven Beitrag für die (Um)welt leisten möchte.
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 59 und 60: Wissenschaft und Umwelt
- Episode 46 über Aktivismus mit Zion Lights
- Episode 45: Mit Reboot oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, mit Herbert Saurugg
- Episode 36: Energiewende und Kernkraft, ein Gespräch mit Anna Veronika Wendland
Hans-Werner Sinn
- Homepage von Prof. Hans-Werner Sinn
- Prof. Hans-Werner Sinn am ifo
- Hans-Werner Sinn, Klimasymposion — Konstanz Mai 2022 — mit dem Titel »Die Globale Energiewende: Sechs große Probleme«
- ifo-Chef Sinn zur Energiewende: »Die einzige Hoffnung der Menschheit war die Atomkraft«, Manager Magazin (2014)
- Buch: Hans-Werner Sinn, Das grüne Paradoxon, Weltbuch Verlag (2020)
- Suzanne Thoma, Daniel Jositsch und Hans-Werner Sinn diskutieren mit Martin Meyer über die Zukunft der Energie. Neue Zürcher Zeitung (9.2.2022)
- Hans-Werner Sinn, Die Dinos
- Hans-Werner Sinn, Ist das E-Auto ein Rückschritt? Wirtschaftswoche (2019)
weitere fachliche Referenzen
- Pigou, Arthur Cecil. 1920. The Economics of Welfare. 4th ed. London: Macmillan
- Donella Meadows, Jorgen Randers, Dennis Meadows, Grenzen des Wachstums - Das 30-Jahre-Update: Signal zum Kurswechsel, Hirzel (2020)
- Symposium on the Economics of Exhaustible Resources (1974)
- Tim Morgan, Life after Growth, Harriman House (2016)
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Sunday Aug 28, 2022
061 — Digitaler Humanismus, ein Gespräch mit Erich Prem
Sunday Aug 28, 2022
Sunday Aug 28, 2022
Meinen heutigen Gast habe ich ebenfalls schon länger auf meiner Wunschliste und es hat mich gefreut, dass er auch sofort zugesagt hat! Erich Prem ist nicht nur Vertreter des "digitalen Humanismus" (DH) — das Thema der heutigen Episode — sondern ein breit gebildeter, interdisziplinärer Denker, wie in dieser Episode deutlich werden wird.
Er ist in seiner Erstausbildung Computerwissenschafter, der sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Er hat am ÖFAI in Wien am sogenannten Symbol Grounding Problem gearbeitet und am MIT in den USA an verhaltensbasierter Robotik. Er leitet seit über zwei Jahrzehnte ein strategisches Technologieberatungsunternehmen, Eutema, in Wien, das neben der EU Kommission auch Ministerien und Universitäten berät.
Er beschäftigt sich als Philosoph — seiner Zweitausbildung — mit komplizierten Fragen an der Schnittstelle von Ethik, Digitalisierung und Technologiepolitik.
Neben vielen anderen Publikationen ist er Mitherausgeber des jüngst erschienen Buches »Perspectives of digital humanism«. Er unterrichtet Digitalen Humanismus an der TU-Wien und Datenethik an der Universität Wien.
In dieser Episode beginnen wir mit der Frage, wie unsere tägliche interaktion mit digitalen Geräten tatsächlich aussieht und wie wir uns das eigentlich wünschen würden. Wie verändert sich die Arbeitswelt? Wie gehen junge Menschen mit digitalen sozialen Räumen um?
Welche Rolle spielen digitale Technologien im geopolitischen und ökonomischen Sinne auch für Europa? Denken wir an Überwachung, langfristige Absicherung wesentlicher Technolgien.
Dann setzen wir uns mit dem relativ neuen Begriff des »digitalen Humanismus« etwas konkrete auseinander: Was ist Humanismus? Was ist die Rolle des Menschen, vom Menschenbild des alten Griechenlands über klassische Bildungsideale zur heutigen Zeit. Spielt Humanismus heute überhaupt noch eine Rolle und sollte er eine Rolle spielen?
Was ist nun der DH und warum braucht es diesen neuen Begriff? Die Kritik von Adorno und Horkheimer am Humanismus wird im DH aufgenommen und Freiheit, Menschenrechte — liberale, westliche Werte verankert, bei einigen Vertretern ist auch eine starke Kapitalismuskritik zu finden, sowie Hinweis zum Überwachungskapitalismus.
Allerdings betont Erich, dass das Individuum nicht alleine im Zentrum stehen darf, sondern sich immer in Reflexion mit der Gesellschaft befindet. Denn digitale Technologien sind auch Machtinstrument und bedürfen politischer und gesellschaftspolitischer Debatte um die Frage zu beantworten: wer formt »das Digitale« eigentlich, wem nutzt es?
Dann diskutieren wir die unterschiedliche Wahrnehmung digitaler Technologien zwischen Kulturen und Nationen, etwa am Beispiel des Techniums von Kevin Kelly, europäischer Philosophie und der Globalisierung, sowie der Frage, woher eigentlich das Design von Technik stammt: top down, bottom up oder gar ungesteuert?
Eine Besonderheit des DH, auch als Abgrenzung anderer wissenschaftlicher Strömungen wie etwa der Technikfolgenabschätzung ist, dass DH von Informatikern geprägt ist, mit dem Anspruch, die Folgen der eigenen Technologie besser zu bestimmen. Dies geschieht nicht Technologie-feindlich, sondern in der Erkenntnis, dass wir uns in Frühzeit der Digitalisierung befinden, die in vielen Bereichen schlicht noch nicht gut genug ist, beziehungsweise falsche Wege eingeschlagen hat. Der DH nimmt also an, dass es kein Schicksal ist sondern nach gesellschaftlichen Vorstellungen Technik gestaltbar ist.
Ich stelle dann die Frage, ob wir nicht teilweise auf Medien-Hypes hereinfallen und die Bedrohungen möglicherweise gar nicht so groß sind. Als Stichworte könnte man nennen: Social Score in China, Google Flue Trends oder Covid AI, und unterscheiden sich die rechtlichen Prinzipien in der analogen Welt wirklich so stark von der digialten, wie manchmal behauptet wird?
Auch wenn es hier und da Übertreibungen gibt, so erkennen wir doch zahlreiche Folgen der Digitalisierung, die sich mit dem Bild, den digitale Humanisten haben, nicht zur Deckung bringen lässt. Darf eine Person etwa auf ihre beobachtbaren Effekte reduziert werden — vor allem von der Vergangenheit in die Zukunft mit vielleicht anderen Kontexten? Wie sieht es mit dem Filtern und der Moderation von Inhalten auf Plattformen aus? Oder, was ist schlimmer: gute oder schlechte »künstliche Intelligenz«?
Einen Kritikpunkt des DH spreche ich noch an, nämlich die Frage des Anthtropozentrismus? Fokussiert sich der DH zu stark auf den Menschen? Was ist mit Nachhaltigkeit und anderen systemischen Fragen?
Zuletzt grenzen wir noch den Digitalen Humanismus vom ähnlich klingenden Begriff der Digital Humanities ab und, was wesentlicher ist, stellen die Frage, was unter Digitaler Souveränität zu verstehen ist: ist Souveränität das gleiche wie Autarkie? Was haben wir in Europa in dieser Hinsicht in den letzten Jahren übersehen, wie sollten wir politisch reagieren?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 4 und Episode 5: »Was will Technologie«, wo ich genauer auf die Ideen von Kevin Kelly eingehe, die wir im Gespräch erwähnen
- Episode 28 mit Prof. Jochen Hörisch zur Idee und aktueller Situation der Universität
- Episode 24 mit Peter Purgathofer: Hangover: Was wir vom Internet erwartet und was wir bekommen haben
- Episode 30 mit Tim Prilove über Techno-Optimismus
Erich Prem
fachliche Referenzen
- Manifest zum digitalen Humanismus
- Hannes Werthner, Erich Prem, Edward A. Lee, Carlo Ghezzi, Perspectives on Digital Humanism, Springer (2022)
- Erich Prem, A brave new world of mediated online discourse, Communications of the ACM (Feb. 2022)
- Shoshanna Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, campus (2018)
- Kevin Kelly, What Technology Wants, Penguin (2011)
- Edware Lee, The Coevolution, MIT Press (2020)
- Social Score China: Spectator Podcast, Chinese Whispers: Mythbusting the social credit system (2022)
- Why Google Flu is a Failure, Forbes (2014)
- What we can learn from the epic failure of Google Flu Trends, Wired (2015)
- Hundreds of AI tools have been built to catch covid. None of them helped. | MIT Technology Review (2021)
- Jonathan Haidt, Why the Past 10 Years of American Life Have Been Uniquely Stupid, The Atlantic (2022)
- Coleman Hughes on The Death Of Conversation with Jonathan Haidt (2022)
- Cathy O'Neill, Weapons of Math Destruction, Crown (2016)
- David Edgerton, The Shock of the Old (2019)
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Wednesday Jul 27, 2022
060 — Wissenschaft und Umwelt — Teil 2
Wednesday Jul 27, 2022
Wednesday Jul 27, 2022
Shownotes siehe Teil 1.
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Thursday Jul 07, 2022
059 — Wissenschaft und Umwelt — Teil 1
Thursday Jul 07, 2022
Thursday Jul 07, 2022
Schon vor ca. 20 Jahren habe ich Vorträge und Seminare zum Thema Wissenschaft und Umwelt gehalten. Vieles von dem, was ich damals gesagt habe, hat sich bis heute (leider) bestätigt. Diese Episode ist so etwas wie ein Frühjahrsputz für mich:
Wie steht die Einordnung der verschiedenen Ideen und Ansätze der Umweltbewegungen mit-, gegen- und zueinander? Wie steht es zwischen Theorie, Ideologie und Praxis? Werten und Aktivität? Welche Rolle spielt Wissenschaft?
Wo sehen wir begriffliche Verwirrungen? Wie finden wir den Weg von, aber auch der Spalt zwischen Ethik und Praxis?
Diese Episode wird die Themen keinesfalls abdecken, ich sehe es eher als ein Aufwerfen von Bällen, die zum Teil in früheren Episoden, zum Teil in späteren Episoden wieder aufgefangen und genauer betrachtet wurden oder werden sollten.
Welche Ansätze und Ideologien gibt es in der Umweltbewegung?
1. De-Growth (Wachstumskritik)
Wachstumskritik hat eine lange und wechselhafte Tradition, die wenigstens auf Thomas Robert Malthus um 1800 zurückgeht und immer wieder neu interpretiert wurde und wird. Eine moderne Definition der Ziele ist:
»Gerechtes Herunterskalieren von Produktion und Konsum, der das menschliche Wohlbefinden und die ökologischen Bedingungen verbessert«
Wir finden in dieser Gruppe leider aber auch eine nicht zu geringe Zahl an Extremisten, denen auch die radikale Reduktion der Menschheit wünschenswert erscheint um das Ziel zu erreichen, etwa:
»Until such time as Homo sapiens should decide to rejoin nature, some of us can only hope for the right virus to come along.«, David Gräber
2. »Business as Usual«
Wenn wir ehrlich sind, interessiert das Thema Umwelt im Alltag immer noch fast niemanden, jedenfalls dann nicht, wenn es über das Ausrollen von Wohlfühltechnologien und -ideen geht, die dem Einzelnen (scheinbar) wenig Kosten verursachen aber ein gutes Gefühl geben, etwas geleistet zu haben:
»Das Ausrollen von ineffektiven Wohlfühl-Technologien ist dreifach schlecht — abgesehen vom offensichtlichen, dass sie ineffektiv sind, führt es auch dazu, dass der Druck nachlässt etwas wirkungsvolles zu tun, weil ja gehandelt wird, und vielleicht das schlimmste: es lenkt mögliche Ressourcen weg von wichtigeren Bedürfnissen.«, Steven Koonin
3. Eco-Modernismus
Dder mittlerweile 101 jährige James Lovelock in seinem letzten Buch Novacen:
»Das Bestreben nach einer besseren Zeit vor dem Anthropozän ist eine Phantasie. Zunächst einmal, weil es nie eine goldene Zeit frei von Wünschen und Leid gab und zweitens, weil wir, um dorthin zurück zu gelangen, die offensichtlichen Vorteile der Moderne rückgängig machen müssten«
Beim Eco-Modernismus steht der Mensch im Zentrum der Veränderung aber auch der Verantwortung; Reduktion des menschlichen Einflusses auf die Natur durch Entkopplung, Intensivierung und Innovation sind der Anspruch:
»Intensivierung vieler menschlicher Tätigkeiten — im besonderen Landwirtschaft, Energiegewinnung, Forstwirtschaft und Siedlung — mit dem Ziel, weniger Land zu nutzen und weniger in die natürlichen Welt einzugreifen ist der Schlüssel, menschliche Entwicklung von den negativen Einflüssen auf die Umwelt zu entkoppeln«
Eco-Modernisten lehnen radikale Wachstumskritik ab. Selbst Jorgen Randers, der Mitautor der »Grenzen des Wachstums« von 1972, schreibt vor wenigen Jahren:
»Der fundamentale Grund, warum die meisten Menschen Wachstum bevorzugen ist, dass es der einzige Weg ist, den moderne Gesellschaften gefunden haben um drei Probleme effektiv zu lösen: Armut, Arbeitslosigkeit und Pensionen«
Aber können wir glauben, dass wir die Herausforderungen der Zeit alleine mit Technik und Wachstum lösen können? Wie lange kann das gut gehen?
4. Singularisten/Eskapisten & Post-Humanisten
Die Insel oder das Landgut in Neuseeland reicht für viele Milliardäre nicht mehr aus, um sich vor den Katastrophen der Welt zu verstecken. Heute muss es der Mars, Raumstationen oder gar das Verlassen des Sonnensystems sein. Jedenfalls ist das die Vision einiger Vertreter einflussreicher US-Eliten.
Sollte das doch nicht klappen, können wir uns ja in Computer hochladen und virtuell weiterleben. Oder übergeben wir als Menschen gar den Stab an intelligente Maschinen? Wer glaubt an diese Phantasien, beziehungsweise hält sie für eine wünschenswerte Zukunft?
***
Im zweiten Teil dieser Episode stelle ich die Frage, was Philosophie und Ethik zu diesem Themenbereich zu sagen hat? Wer steht eigentlich im Zentrum der Betrachtung, Mensch oder Natur? Sollten wir Deep oder Shallow Ecology betreiben? Wem sollen wir folgen, Deontologen oder Utilitaristen und was ist von der »PAT« Formel zu halten?
Haben die Wachstumskritiker bisher mit ihren Vorhersagen recht behalten, und selbst wenn nicht — was bedeutet dies für die Zukunft? Außerdem: nicht nur die Interessen westlicher Industrienationen zählen:
»Diese verschiedenen Ansätze haben ein gemeinsames Design, das ökonomische Ziel, die Kosten des Klima-Aktivismus zu sozialisieren und die Armen die Rechnung für die Reichen zahlen zu lassen.« und
»Die Weiterführung globaler Armut und niedriger Einkommen kann nicht die Klima-Strategie der reichen Welt sein.«, Samir Saran
Welche Rolle spielt Ideologie und wie ist die Lücke zwischen Ideologie, Wissenschaft und tatsächlicher Umsetzung zu überbrücken. Gerade unter Aktivisten erleben wir oft ein hohes Maß an Motivation, Kritik an Missständen aber nur sehr selten kohärente und realistische Ideen, wie die Situation verbessert werden kann.
»Es zeigt sich, dass in den fortgeschrittensten Phasen der Idiotie der Ideenmangel mit Ideologieüberschuss kompensiert wird.«, Carlos Ruiz Zafon, eine Figur in Das Spiel der Engel
Oftmals scheint die Medizin des Aktivismus schlimmere Folgen zu haben als die Krankheit — helfen uns die zahlreichen NGOs also, das Problem zu lösen, oder richten sie oftmals mehr Schaden als Nutzen an?
»Tausende Kuhhörner, vergraben auf einem Acker, sollen für eine gute Ernte sorgen. Für Demeter-Landwirte ein gängiges Ritual. Ein Verband zwischen Biolandwirtschaft und Esoterik.«, ZDF-Bericht zur Bio-Landwirtschaft zwischen Ökologie und Esoterik
Dass es nicht nur um nutzlose Esoterik geht, sondern dass inkohärente Öko-Ideen auch massive Schäden anrichten können, zeigt der radikale Versuch in Sri Lanka auf eine vermeintlich grüne Landwirtschaft umzusteigen:
»Die Befürworter von Bio-Landbau, überzeugt von naturalistischen Fehlschlüssen und argwöhnisch über moderne landwirtschaftliche Forschung, können keine plausible Lösung anbieten. Was sie anbieten, wie das Disaster in Sri Lanka offen gelegt hat, ist Elend.«, Ted Nordhaus
Das Experiment in Sri Lanka wurde nach wenigen Monaten beendet, weil die Folgen verheerend waren.
Ein anderes Beispiel: Greenpeace protestiert zur gleichen Zeit in England gegen ein Solarkraftwerk und in Frankreich gegen Kernkraft. Wer kann das rational nachvollziehen und unterstützen?
Wenig hinterfragte Ideologisierung finden wir aber auf allen Seiten. Wie kommen wir aus diesem Patt heraus? Kann es gelingen, die vernünftigen Ideen aller Seiten zusammenführen und die wenig hilfreichen (aber lauten) Vertreter beider Seiten zu ignorieren? Es gibt gute Beispiele von Aktivisten, die tatsächlich zuhören und ihre Meinung ändern, wenn sie von besseren Argumenten überzeugt werden, wie auch Episode 46 mit der Aktivistin Zion Lights zeigt! Nehmen wir uns diese zum Vorbild.
Zum Abschluss: eine ganze Reihe von Begriffen tauchen in diesem Kontext immer wieder auf, die zumindest hinterfragt werden sollten, eine kleine Auswahl diesmal:
- Wissenschaft und Szientismus
- Probleme vs. Dilemmata
- »Umwelt«
- Naturalistischer Fehlschluss
- Vorsorge Prinzip
Zusammenfassend: wie geht es weiter? Die Zeit, wo wir uns als passive, von Natur oder Gott getriebenen Lebewesen sehen konnte ist vorbei:
»Wir können uns wahrscheinlich kaum mehr so etwas wie Naturphänomene vorstellen, die im Sinne der klassischen Theodizeefrage vollständig auf Natur als Gegenkonzept zu Kultur oder Gesellschaft ausgelagert werden können. Selbst wenn ein Komet auf die Erde zurasen würde, […] würden wir das nicht alleine einem externen Schicksal zurechnen, sondern die Katastrophe unserem Mangel an Abwehrstrategien zurechnen«, Armin Nassehi
Wie kommen wir zu einer systemischen Sicht, zu einem Blick, die »Gaia« als ganzes betrachtet, das menschliche Wohlbefinden nicht hinten anstellt und trotzdem nicht zur Katastrophe führt?
»Catastrophists are wrong, time after time. […] And techno-optimists, who promise endless near-miraculous solutions, must reckon with a similarly poor record.«, Vaclav Smil
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 7 und 8: Alles wird besser... oder nicht?
- Episode 15: Innovation oder Fortschritt
- Episode 16: Innovation oder Forrtschritt oder Stagnation?
- Episode 18: Fortschritt oder Stagnation: Gespräch mit Andreas Windisch
- Episode 39: Follow the Science
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, ein Blick hinter die Kulissen: Gespräch mit Herbert Saurugg
- Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
- Episode 46: Activism, a Conversation with Zion Lights
-
Episode 62: Wirtschaft und Umwelt, ein Gespräch mit Prof. Hans-Werner Sinn
-
Episode 70: Future of Farming, a conversation with Padraic Flood
Fachliche Referenzen
- Extinction Rebellion Website
- Degrowth US Readings
- Jason Hickel, Degrowth: A Call for Radical Abundance
- Hating Humanity Won’t Get You Canceled - WSJ
- Why Silicon Valley billionaires are prepping for the apocalypse in New Zealand, The Guardian (2018)
- Steven Koonin, Unsettled, What Climate Science Tells Us, What It Doesn't, and Why It Matters
- Patrick Curry, Ecological Ethics, An Introduction, Polity Press (2006)
- Stanford Encyclopaedia of Philosophy, Environmental Ethics
- Samir Saran, Enough Sermons on Climate, It’s Time for ‘Just’ Action
- Peter Treue, Blut und Bohnen, Der Paradigmenwechsel im Künast-Ministerium ersetzt Wissenschaft durch Okkultismus, FAZ (2002)
- Cornelius Janzen, Ritual der Demeter-Landwirte: Warum sie Kuhhörner in der Erde vergraben, ZDF (2021)
- Demeter, »biodynamische« Präparate
- Mark Lynas, Finland’s Green Party endorses nuclear power (2022)
- Mark Lynas, Seeds of Science, Why We Got It So Wrong On GMOs (2020)
- James Lovelock, Novacene, The coming age of hyper intelligence
- Jorgen Randers, 2052 A global forecast for the next forty years (2012)
- Ted Nordhaus, Sri Lanka's Organic Farming Experiment Went Catastrophically Wrong, Foreign Policy (2022)
- Der Mensch - das Mängelwesen, NZZ (2004)
- The Doomslayer. The environment is going to hell, and human life is doomed to only get worse, right? Wrong. Conventional wisdom, meet Julian Simon, the Doomslayer. Wired (1997)
- Population, Affluence, and Technology, Penn State College of Earth and Mineral Sciences
- Roger Pielke Jr., More on the Iron Law of Climate Policy (2010)
- Carlos Ruiz Zafón, eine Figur in Das Spiel des Engels
- Vaclav Smil, How the World Really Works, Penguin (2022)